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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 49.1921-1922

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Pfister, Kurt: Vincent van Gogh
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https://doi.org/10.11588/diglit.9142#0343

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Vincent van Gogh.

das Leben, wenn ich ganz wild die Arbeit heraus-
stoße . . . Aber so allein, so isoliert rechne ich
nur mit der Erregung gewisser Augenblicke und
dann lasse ich mich bis zum Exzeß gehen. Die
Leinwände, die ich hier gekauft habe, und das
ist wirklich noch nicht lange her, sind fast alle
voll bedeckt. . . ich habe Augenblicke, wo die
Begeisterung bis zum Wahnsinn oder der Pro-
phetie gestiegen ist ... ich habe mehr Gedanken,
als ich jemals ausführen kann, ohne daß mich
das benebelt. Die Pinselstriche gehen wie
mit der Maschine".

Ihm, der aus Paris entflohen war, schenkte
der Süden — zur Weißglut erhitzt das alte Gold
der Ähren und der Azur des Himmels —
nun Erfüllung : die Farbe.

Bilder, Leinwände wurden das Gefäß, in das
seine unstillbare Liebe, die keine Frau, kein
Freund aufnehmen mochte, verströmte.

Und den Gott der Kathedralen, zu dem die
Menschen glücklicherer Zeiten heimfanden, sah
er, unkenntlich fast, aber nie ganz ausgelöscht
in Sonnenblumen, Ährenfeldern und lichtent-
flammter Himmelsbläue.

Sein Leben geschah, um sein Werk zu er-
füllen. Das Werk ist, unerhörtes Wunder, im

Ablauf eines Jahrhunderts der Zweifel, eins
mit dem Menschen.

Er, der immer nach Gemeinschaft strebte, ist
auch als Künstler einsam geblieben. Was hat
das rostfarbene, ausgehölte, starkknochige Ge-
sicht des holländischen Bauern mit den müden
und sensibeln Zügen der Pariser Zeitgenossen
gemein? Ihr Werk, das Werk der Impressioni-
sten, ist köstliche in perlmuttenen Regenbogen-
farben schillernde Oberfläche einer morbiden
Kultur. Seine Bilder sind vulkanische Ausbrüche
menschlichen Leidens und menschlicher Leiden-
schaft. Jenseits ihres schwankenden Welt-
bildes wächst seine Gläubigkeit unantastbar
und tiefverwurzelt.

Aber er ging zwischen uns und wir erkann-
ten ihn nicht.

Was wissen die von ihm, die heute mit sei-
nem Namen ihr Werk rechtfertigen?

Wer besitzt gleich ihm Menschlichkeit und
Güte, den unerschütterlichen Glauben, die de-
mütige Hingabe, die auch das Mädchen der
Straße mit brüderlicher Liebe umfaßt? — Seine
Bilder hängen in den Palästen der Reichen; und
die Armen, unter denen er lebte, für die er litt
und schuf, kennen ihn nicht. .

KURT PF1STER.

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