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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 49.1921-1922

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Niebelschütz, Ernst von: Die Orientalische Frage in der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.9142#0385

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DIE ORIENTALISCHE FRAGE IN DER KUNST.

Das Denken der abendländischen Menschheit
befindet sich zur Zeit in einer Krisis, von
deren welthistorischer Bedeutung keineswegs
überall klare Vorstellungen herrschen. Nachun-
geheurenEroberungen auf dem Gebiete der exak-
ten Wissenschaf ten, mitten im Siegeszug einer vor
keiner Problemstellung zurückweichenden Tech-
nik, wird der europäische Mensch — der wis-
sende und, ach, so wenig erkennende — plötz-
lich von der paradoxen Frage geängstigt: wozu
das alles? Wozu diese ganze hochentwickelte
Zivilisation, die sich, objektiv gewertet, doch
nur als eine andre Art von Barbarei heraus-
stellt, wozu die Wissenschaft, die, anstatt
Probleme zu lösen, immer neue und schwie-
rigere stellt, wozu die Kunst, von der es so
schön hieß, sie sei um ihrer selbst willen da,
wo doch allen ästhetischen Dogmen zum
Trotz eine innere Stimme uns sagt, daß auch
sie dem Leben zu dienen habe — dem Leben
als Synthese alles dessen, was dieser ephemeren
Existenz erst Inhalt gibt.

Begreift man, was das bedeutet? Es bedeutet
nichts geringeres, als eine totale Kräfteverschie-
bung im Denken und Fühlen des okzidentalen
Menschen. Er, der bislang in der bewußten Los-

lösung von allen Bindungen des Leibes und der
Seele das Heil erblickt hat, fängt an zu begreifen,
daß er mit seinem ganzen Persönlichkeitskultus
in einen Sumpf geraten ist, aus dem es keine
Rettung gibt als Glauben — Glauben an das
Überpersönliche, an das aller Greifbarkeit Ent-
zogene, an die große Synthese Gott. Gott als
Widerspiel und Gegensatz zur Welt der Erfah-
rung —■ nicht pantheistisch, sondern ganz dua-
listisch aufgefaßt. Es ist noch nicht Religion,
die das unfruchtbar gewordene Europa heute
erschüttert. Es ist erst die Sehnsucht danach.

Die plötzliche Erkenntnis von der völligen
Unzulänglichkeit des bisher für wahr Gehalte-
nen, ein tiefes Mißtrauen gegen den Entwick-
lungsgedanken namentlich, hat ihm den ver-
zweifelten Glauben an den „Untergang des
Abendlandes" in die Seele gesenkt. In solcher
geistigen Verfassung richtet der europäische
Mensch seinen Blick gen Osten. Vielleicht, daß
im staunenden Erfassen höchster Gesetzmäßig-
keiten , eherner Bindungen und gewaltigster
Ekstasen dem Friedlosen doch noch Genesung
wird — Genesung vom Fieber der Wirklich-
keit und dem als Irrglauben erkannten Wahn,
daß der Mensch das Maß aller Dinge sei.
 
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