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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 50.1922

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Kirchner, Joachim: Die neue religiöse Malerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.9143#0030

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Die neue religiöse Malerei.

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konnte im 19. Jahrhundert leicht als maniriert
und gewollt beurteilt werden — eine Mahnung
für die folgenden Generationen, nicht in der Wie-
derbelebung überwundener Kunstformen das
Heilmittel gegen die Schäden der Zeit zu suchen.
* * *

Auch die Kunst unserer Tage wird von reli-
giösen Ideen bewegt. Wieder drängen sich
biblische Themen in die Gefühlswelt unserer
Künstler ein, wieder werden religiöse Bilder
gemalt, zwar nicht im Sinne der zarten An-
dachtsstimmung oder der naiven Fabulierlust
jener Primitiven, die sich so gern in das Anek-
dotenhafte der Evangelien und Legenden ver-
lor, wohl aber im Geiste mitfühlender Leiden-
schaftlichkeit, verinnerlichter Erregtheit, die je
nach dem Temperament des Künstlers sich bald
in einer ekstatisch verzerrten Gebärde, bald in
verhaltener Formensprache kundgibt. Das In-
teresse am Stofflichen tritt zurück, das religiöse
Motiv dient zuweilen nur zum Vorwand, um in
den Qualen und inneren Kämpfen der göttlichen
und heiligen Personen das Spiegelbild der lei-
denden Menschheit, des ringenden Menschen-
tums unserer Zeit wiederzufinden. Historisch
gewertet mag vielleicht die übersetzte Formen-
sprache unserer religiösen Maler an stilisierte
Figuren mittelalterlicher Miniaturmalerei ge-
mahnen, auch die Erinnerung an den monumen-
talen und einprägsamen Ausdruck jener fast
körperlos empfundenen Heiligen in frühchrist-
lichen Mosaiken dürfte hier und da lebendig
werden. Am nächsten aber liegen wohl die
Beziehungen zu den Künstlern des Barock.
Noch nie bemühte sich eine Künstlergeneration
sich in die Kunst eines Greco, Tintoretto wie
Grünewalds mit so hingebungsvollem Eifer ein-
zufühlen und sie zu studieren, wie die unsrige.
Wenn es ihr bei dieser Gleichgestimmtheit der
modernen Weltseele mit dem Kunstgefühl ver-
klungener Zeiten bisher möglich gewesen ist,
sich nicht in die Abhängigkeit der umworbenen
Vorbilder zu begeben, sondern äußere Anreg-
ungen, die jene boten, umzuwerten und schöp-
ferisch neu zu beleben, so dürften wir hierin
ein hoffnungsvolles Vorzeichen für die Weiter-
entwicklung der neuerwachten religiösen Ma-
lerei erblicken. Die Gefahren epigonenhafter
Nachahmung, an denen das Nazarenertum
krankte, sind bei den starken Talenten unserer
jungen Künstlerschaft kaum zu befürchten.
Denn bei ihnen ist das religiöse Erlebnis ja nicht

auf eine kirchliche Frömmigkeit gegründet, auch
nicht an schulmäßige Tradition gebunden oder
gar als Konzession an die Zeitströmung zu be-
trachten, sondern einem inneren Antriebe fol-
gend wählen sie die alten durch die Überlieferung
geheiligten Stoffe, um das, was sie in dem mo-
dernen Weltbilde religiös bewegt, in dem Rah-
men der alten Mysterien zum Klingen zu brin-
gen. Das Motiv und die Form wird zur Neben-
sache, die Pointierung des Psychischen, das
gefühlsmäßige Erlebnis ist das Wesentliche. Mit
dieser neuen charakteristischen Note knüpft die
moderne religiöse Malerei an allgemeine künst-
lerische Anschauungen der jungen Generation
an, die den ausgleichenden Tendenzen des Re-
lativismus abhold, wieder an die zwingende
Macht der Ideen zu glauben vermag. Unter
diesem verheißungsvollen Vorzeichen erwarten
wir den Anbruch einer neuen künstlerischen
Schaffensperiode; ihrem Führer lebt die Ju-
gend mit siegesfreudiger Hoffnung entgegen. . .
« * +

Wilhelm Lehmbruck's Plastiken! Wer jemals
in die Werke dieses so früh verstorbenen Mei-
sters sich einzufühlen bemühte, dem dürfte es
vielleicht am ehesten klar werden, aus welcher
geistigen Provinz jene Ideen stammen, die unsre
Jugend zu neuem Leben erwecken will. Lehm-
bruck's fromme Sehnsucht, alles Erdenhafte
und Vergängliche abzustreifen, um geläuterter,
edler und reifer sich in das lichtvolle Reich
einer künstlerisch geklärten prästabilierten Har-
monie emporzuschwingen — das ist der meta-
physische Drang, der sich allen idealistisch Ge-
sinnten heute mitgeteilt hat. Lehmbruck's
Werke sind vergeistigte Manifestationen eines
auf innerem Schauen basierenden Lebensgefühls
eines reinen Menschentums; sie sind Gestalt
gewordene Ausdrucksnormen einer subjektiven
undogmatischen Religiosität. In ihnen ist das
Kunstwerk zum religiösen Erlebnis geworden.
Lehmbruck hat nie eine Kreuzigungsgruppe, nie
eine Pietä geschaffen. Allein, wir verlangen
bei diesem Künstler nicht nach den biblischen
Motiven. Darstellungen wie die „Knieende",
„Der emporsteigende Jüngling" oder „Der ster-
bende Krieger" können in ihrer vergeistigten
Ausdruckskraft, in ihrer schlichten Herbheit und
einfachen Größe ein stärkeres religiöses Gefühl
wachrufen, als viele noch so gutgemeinte An-
dachtsbilder. Es kommt darauf an, welche Deu-
tung man dem Begriffe Religion geben will. j. k.
 
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