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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 50.1922

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Osborn, Max: Arbeiten von Marie Elisabeth Fränkel
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W. F.: Das Substanzielle in der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.9143#0120

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marie
elisabeth
frankel.
»plakette«

DAS SUBSTANZIELLE IN DER KUNST.

Der Naturalismus ließ außer Acht, daß die
Welt eine Schöpfung des Ich ist. Der
Expressionismus ließ außer Acht, daß alles Ich
ein Du, alles Subjekt ein Objekt voraussetzt.
Dem Naturalismus entseelte sich die Welt, da
er ihr den Bestandteil Ich entzog. Dem Ex-
pressionismus entstofflichte sich das Ich, da er
ihm den Bestandteil Welt entzog. Zwei so grund-
legende und schmerzliche Erfahrungen, gegen-
sätzlich aufeinander folgend und auf schmalen
Zeitraumzusammengedrängt,sollten derMensch-
heit als Warnung, als Fingerzeig dienen.

Die Welt ist Tat des Ich, kein Zweifel. Aber
diese Einsicht gehört in den Bereich der Be-
trachtung, nicht in den Bereich des Handelns
und des Schaffens. Vor der reinen denke-
rischen Erwägung wird sich das Gewebe der
Welt immer aufdröseln; sie wird auf die Welt-
substanz immer zerstörend einwirken, denn
Denken ist nicht das Organ, mit dem wir an
den Weltstoff, an das Objekt herankommen
können. Es ist, als wollten wir zarte Woll-
flocken mit weißglühenden Zangen ergreifen:
sobald wir sie damit berühren, verkohlen sie
im Nu. Verhalten wir uns aber dann handelnd
und schaffend zur Welt: sogleich ist deren Sub-
stanz wieder hergestellt, wölbt sich auf mit gra-
nitenen Bergen und rauschenden Wäldern und

gibt sogar Stoff ab, die hohen Gestalten zu ver-
leiben, die die überirdischen Sphären bevölkern.

Der Expressionismus hat sich bemüht, zu
vergessen, daß das so mächtige, weltschöpfe-
rische Ich nur durch das entsprechende Du ge-
füllt und bestimmt wird. So ist seine Welt
verarmt, sie ist dünn und fadenscheinig ge-
worden. Und auf allen Seiten sehen wir die-
jenigen, die diese Erfahrung nicht umsonst ge-
macht haben, mit herzlicher Begierde das große
und kleine Du aufsuchen. Das Ich verschweigt
sich. Das Ich ist eine Schattenblume; sie kann
nicht immer im hellen Licht des Bewußtseins
stehen. Sie braucht Dunkel und Kühle. Sie
blüht, wenn der Geist sich herzlich auf das
Nicht-Ich einstellt. Und so stehen unsere Künst-
ler wieder vor der Natur, nicht um sie unter
Vergewaltigung des Ichs abzumalen, sondern
um dem Hunger des Subjekts die ewige, näh-
rende Materie zuzuführen, durch die das Ich
erst in den Stand gesetzt wird, Welten zu er-
schaffen. Es ist ein Vorgang der Gesundung,
eine kunstmoralische und sogar eine moralische
Verdichtung, Wiederaufrichtung des mensch-
lichen Geistes, die sich bei allen Völkern und
auf allen Gebieten bemerkbar macht und die
ohne Zweifel auch unsrer Kunst einen neuen
Lebensantrieb geben wird...........w. f.

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