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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 50.1922

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Michel, Wilhelm: Aus der Welt des Künstlers
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https://doi.org/10.11588/diglit.9143#0236

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MATHILDE FLÖGEL • WIENER WERKSTATTE—WIEN. KERAMIK »HIRSCBE«

AUS DER WELT DES KÜNSTLERS.

VON WILHELM MICHEL.

Wie und warum ändern sich die „Zeiten?"
Wie formt sich das Lebensgefühl einer
Epoche und wie formt es sich um? Seit die
„Entwicklung" entdeckt ward, sindunsereAugen
auf das ewig Wechselnde, Strudelnde, Wirbelnde
im Lebensablauf gerichtet, Aber wie vieles gibt
es auch um uns und in uns, das ewig beharrt!
Hügel, Himmel, Bäume und Tiere sind heute
noch so wie vor zehntausend Jahren. In der
geistigen Lage des Menschen der Welt gegen-
über hat sich seit geraumer Zeit auch nichts ge-
ändert. Die Grenzen seines Erkennens sind
sich gleich geblieben, seine Lage als die eines
geformtenEinzelwesensinmitteneinesSchwalles
voll All und Unendlichkeit hat sich nicht ver-
schoben. Was ist nun, das uns aus dieser ewig
gleichen Konstellation heute Verzagen und Ver-
zweifeln herauslesen läßt, morgen höchste Er-
kühnung und Zuversicht? Heute das Elend tief-
ster Vereinsamung, morgen das Glück eines
schicksalhaften, sinnvollen Zusammenhanges?
Welches sind die lunarischenEinflüsse die Gottes
Ebbe und Flut bewirken?

Es ist heute vielleicht wichtig, diese anschei-
nend unwissende und viel beantwortete Frage
noch einmal zu stellen. Ja, es gibt eine Menge
Antworten auf sie. Die Antworten gehen — so-
fern sie nicht rein materialistisch lauten — alle
darauf hinaus, daß rätselhafte periodische Vor-
gänge im Gemüt des Menschen stattfinden, die
ihm die Wertbetonung seines eigenen Lebens,
seiner Umwelt, seiner Geistesinhalte ständig
verschieben. Mit andern Worten: diese Erklä-
rungen geben nicht eigentlich eine kausale Ver-
knüpfung, sie stellen ein Sein fest und lassen
die Erkenntnis und den Willen ziemlich ratlos
vor der Frage, wie der Einzelne sich innerhalb

des So-Seins der geistigen Zeitlage verhält, wie
er wirkend in sie eingreift.

Wir erzählen uns vom Menschen des alten
Assur, vom Menschen Indiens, der Gotik oder
des Goethe'schen Zeitalters, daß glücklichere
und nähere Sterne über ihnen standen. Wir
sagen von ihnen, daß für sie lebendige Wirk-
lichkeit war, was wir aus Abgründen ersehnen
an Gottverbundenheit und Lebenswissen.

Und wir erzählen uns vom Menschen der
Gegenwart, daß er vor einer zerschmetterten,
zerfaserten Welt steht, wie jene ägyptischeGöttin
vor dem zerstückelten Osiris, doch ohne jede
Macht, die kläglich zerrissenen Glieder zum at-
menden Körper wieder zusammenzufügen.

Man darf dieser Betrachtungsweise gewiß
nicht alle und jede Wahrheit abstreiten. Aber
ich glaube, daß sie insofern irrig ist, als sie den
Einzelnen wehr- und waffenlos der geistigen
Zeitlage gegenüberstellt. Wir glauben an eine
erdrückende Übergewalt der geistigen Augen-
blicksnöte. Wir glauben an die zwanghafte und
unentrinnbare Verfangenschaft jedes Einzelnen
in der allgemeinen geistigen Ratlosigkeit. Wir
haben unsre geistige Welt mit Kulissen verstellt,
auf die in dunklen und grellen Farben viel Ver-
zweiflung und Verzicht aufgemalt sind. Wir
haben unsre geistige Welt unwegsam für kräftige
Entschlüsse, unwirtlich für Aufraffungen und
gesunde Menschenregungen gemacht. Dazu ge-
hört, daß finstere Untergangsperspektiven aus-
gerufen werden. Dazu gehört, daß man eine
künftige abendländische Kultur von nicht ge-
ringerem abhängig macht, als von einer neuen
Religion. Dazugehört, daß wir alle Bußprediger
und Apokalyptiker geworden sind, die ihre
Nebenmenschen durch überspannte Tiefenein-

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