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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 50.1922

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Niebelschütz, Ernst von: Das Geheimnis des Primitiven, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.9143#0126

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DAS GEHEIMNIS DES PRIMITIVEN.

(fortsetzung von seite 65.)

So glauben wir z. B. bereits in den frühen
Niederländern des 15. Jahrhunderts Rubens
und Rembrandt wirken zu sehen, freilich erst
keimhaft, gleichsam im Puppenstand und von
dem geheimnisvollen Reiz des Unvermögens
umdunkelt. Diese Auffassung wird der wahren
Bedeutung des Primitiven nie gerecht werden.
In ihr spricht sich meines Erachtens der ganze
raffinierte Geschmack des vielzuviel Wissen-
den aus, der nur eine andere Art von Per-
versität ist und der Unschuld des Noch-nicht-
voll-Entwickelten als eines Stimulanzmittels für
erschlaffte Nerven bedarf. Auch verkennt diese
Art zu sehen vollkommen das Wesen der
Kunst, die sich auf jeder Stufe als ein Abso-
lutes gibt und durch den Entwicklungs-Ge-
danken, der das jeweils erreichte Stadium relativ
wertet, um ihren metaphysischen Sinn be-
trogen wird. Das Primitive ist in sich genau
so vollkommen wie der Zustand der Reife. Wir
müssen nur versuchen, es aus seinen eigenen
Bedingungen heraus zu verstehen.

Alles Primitive wurzelt im Mythos. Dies
ist der Grund der unausmeßbaren Weite seiner
inneren Dimensionen. Dies ist auch der Grund
für die tiefe Verkettung von Leben und Kunst,
die sein Wesen ausmacht. Denn ob der Neger
sich einen Ring durch die Nase zieht oder seinen
Gott in eine phantastisch geschnitzte Holzfigur
bannt — der Antrieb zu beiden Tätigkeiten
ist übersinnlicher, mythischer Art. Wo aber
das Leben — alles Leben — im Dienste des
Mythos steht, ja nur eine Erscheinungsform des
Mythos ist, da bedarf es nicht der Kunst als
eines besonderen Seelenvermögens, dem die
Aufgabe zufällt, dem Leben eine Bedeutung zu
verleihen, die es aus sich selbst heraus nicht
hat. Denn hier ist das Leben in jeder seiner
Äußerungen bedeutsam. Auch da, wo der
Anruf zum Bilden ein sinnlicher ist, hört dieses
darum nicht auf, metaphysischen Charakter zu
tragen, denn diese ganze, vom Mythos ununter-
scheidbar durchflochtene Körperlichkeit steht ja
in innigster Beziehung zu magischen Mächten.
So ist auch die Nachahmung der Natur im primi-
tiven Kunstschaffen etwas ganz anderes als bei
uns. Sie ist übergegenständlich, nicht illusio-
nistisch, sie bezieht sich immer auf ein Über-
weltliches, das sich in der vergänglichen Er-
scheinung eingekörpert hat und Gewalt über sie
ausübt. Der darstellende Künstler bemächtigt
sich nicht etwa bloß symbolisch, sondern effek-

tiv der Seele des Gegenstands, weshalb heute
noch australische Neger sich nur mit äußerstem
Widerstreben von Fremden zeichnen lassen.
Wir mögen das belächeln und werden uns doch
nicht der Einsicht verschließen können, es hier
mit Dingen zu tun zu haben, die, so barbarisch
sie uns vom individualistischen Standpunkt auch
anmuten, ein bei weitem stärkeres und tiefer
fundamentiertesWeltgefühl offenbaren als dieser
ganze faule Realitätenzauber europäischer Auf-
geklärtheit mit seinem erschreckenden Mangel
an Hintergründen. Vor allem aber sollten wir
uns doch hüten, die Kunst der primitiven Völker
mit der hochmütigen Gebärde des sich höher
Dünkenden abzutun als eine Verlegenheits-
äußerung technischen oder imitativen Unver-
mögens. Was sie ist, das ist sie ganz. Sie
bedarf wirklich keiner Entschuldigung. So wenig
wir von ihr unmittelbar lernen können —
nichts schrecklicher als die Primitivitätsgeste
gewisser Modernen — umso nachdrücklicher
sollte uns das mitfühlende Erleben ihrer wun-
dervollen Totalität die trostlose Zusammenhang-
losigkeit unserer sogenannten „höheren Kultur"
vor Augen führen. Vielleicht, daß auch hier das
„Erkenne dich selbst!" den Anstoß zu einer
Wiedergeburt des Geistes gibt! Denn — zwei-
feln wir nicht — die Renaissance, vor der oder
in der wir stehen, kann nur eine Wiederent-
deckung der metaphysischen Kraft-
quellen sein, deren Spur uns im Zeitalter des
Realismus verloren ging, ernst v. niebelschütz.
ä

Wollte sich der Künstler mit Bewußtsein
der Natur unterordnen und das Vorhan-
dene mit knechtischer Treue wiedergeben: so
würde er wohl Larven hervorbringen, aber keine
Kunstwerke. Die Kunst muß, um Kunst zu sein,
sich erst von der Natur entfernen. Der Künstler
muß sich vom Produkt oder vom Geschöpf ent-
fernen, aber nur, um sich zu der schaffenden
Kraft zu erheben und diese geistig zu ergreifen.
Hierdurch schwingt er sich in das Reich reiner
Begriffe: Jenem im Innern der Dinge wirksamen,
durch Form und Gestalt nur wie durch Sinn-
bilder redenden Naturgeist soll der Künstler

nacheifern............ f. w. j. v. schelling.

Ä

Seien wir auch dem Snob dankbar, der sich
mit guten Dingen, statt mit gemeinen, brü-
stet und schließlich, ohne es zu ahnen, doch
zum Heile beiträgt......Julius meier-graefe.

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