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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 50.1922

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Heuss, Theodor: Zeitstil und Volksstil
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https://doi.org/10.11588/diglit.9143#0061

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F. RIX—WIEN. »KISSEN AUS SCHWARZEM LIBERTY, MIT SEIDE BUNT BESTICKT«
AUSFÜHRUNG: WIENER WERKSTÄTTE.

ZEITSTIL UND VOLKSSTIL.

Indem man den Begriff eines „Zeitstils" als ge-
geben hinnimmt, bekennt man sich zu der
geschichtlich eindrucksvoll genug erhärteten
Tatsache, daß bestimmte Zeitepochen ihren
im Wechsel begrenzten sinnlichen Ausdrucks-
charakter geschaffen haben. Der läßt sich be-
schreiben an einer gewissen Wiederkehr von
Formsymbolen, für deren Entstehen man aller-
hand Erklärungen finden kann äußerer Natur,
deren Aufnahme durch eine Zeit, deren Ver-
schwinden in die Vergangenheit aber etwas ewig
Geheimnisvolles bleibt. Der „Stil" ist der Aus-
druck der geistigen Haltung einer Epoche, und
es ist unumgänglich, daß rückschauende Zeit
sein Wesen literarisierend und romantisch um-
rankt — aber eben nur rückschauende Zeit, die
Slch selber gegenüber unsicher geworden ist und
ßeneigt, ihre eigene Gegenwart als „stillos" zu
empfinden. „Stillos" aber ist keine Zeit, denn
jede bedarf, wenn sie in den Strom der Wand-
lung gerissen ist und nicht auf einer tropischen

Südseeinsel im Schöße uralt gleicher Vegetation
träumt, ihres Ausdrucks; auch schlechter Stil
ist immerhin Stil, auch schlechte Form ist Form,
und es ist eineHilf skonstruktion desGeschmacks,
wenn man von „Entformung" redet. Solche
Erkenntnis ist gefährlich, wenn sie zu der Resig-
nation führt, die Form einer Zeit nun eben bloß
als Gegeb enes, schier Zwangsläufiges zu nehmen,
aber wohltätig, wenn sie davor warnt, eine
rational erklügelte oder schwärmend empfun-
dene Formidee künstlich einem Zweck, einer
Zeit, einer geistigen Atmosphäre aufzuzwingen,
deren Wesen von völlig fremden Kräften ge-
speist ist. Hieran lag ja der gutgläubige, wenn
auch verhängnisvolle Irrtum des historischen
Eklektizismus, hier lauern auch die Gefahren
jenes Subjektivismus, der mit herrischer Ge-
bärde Zeitsymbole diktieren will. Wenn Stile
sich durch geistigt Umlagerungengeändert hab en,
so heißt das nicht, daß dies Vorgänge außerhalb
der Willenssphäre gewesen sind, sie sind durch-

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