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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 50.1922

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Kehrer, Hugo: Jean Auguste Dominique Ingres
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Michel, Wilhelm: Die geistige Unterstützung des Künstlers
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https://doi.org/10.11588/diglit.9143#0136

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DIE GEISTIGE UNTERSTÜTZUNG DES KÜNSTLERS.

VON WILHELM MICHEL.

Wo ich in die Erörterung des künstlerischen
Augenblickes hineinsehe, erblicke ich ge-
furchte Stirnen, Augen, die das Kommende zu
durchdringen streben, mahnend erhobene Zeige-
finger, die Richtungen angeben und die zu sagen
scheinen: Hier und nirgends sonst geht der
Weg zu gedeihlicher Zukunft. Man fühlt in allen
Geistern noch die Erregungen der expressio-
nistischen Manifeste nachzucken, dieser Mani-
feste, die nichts andres sein wollten als Deu-
tungen des Weges bis zu den höchsten Ergeb-
nissen. Alles, was mit und in der Kunst lebt,
hat seitdem verlernt, brüderlich und verständig
mit der Gegenwart zu leben. Jene merkwürdige
Tiefeneinstellung des Blickes, aus der als mar-
kantestes Erzeugnis das Buch von Otto Spengler
hervorging, verschiebt die ganze bisherige Optik
unsres gedanklichen Schrifttums. Man kann
sagen, eine Art zwanghafter Weitsichtigkeit sei
zur Herrschaft gekommen, die kein ruhiges Be-
blicken des Nahen und Gegenwärtigen mehr
zulasse. DiePerspektiven der Erörterung können
nicht entfernt, nicht endgültig genug sein. Und
selbstkleine Geister, die früher nie überihre Nase
hätten hinausblicken können, sehen wir nun Di-
rektiven erteilen, Ausblicke auftun, vergangene
und künftige Zeil en enträtseln mit einer Gelenkig-
keit, die notwendig Mißtrauen erwecken muß.

Sollte man sich nicht öfter die Frage vorlegen:
Was hilft es, bei jeder Kunsterörterung gleich
bis an die letzten Horizonte vorzustoßen? Wem
ist schließlich damit gedient, wenn mit bedeu-
tendem Augenaufschlag eine neue Religion als
unerläßliche Vorbedingung für eine große Kunst
gefordert wird? Man könnte beinahe eben-
sogut ein interplanetarisches Ereignis fordern,
um die Menschheit geistig frisch einzustellen.

Unsere gesamte Essayistik beginnt an dieser
Fernsichtigkeit förmlich zu kranken. Und im
Besonderen die Kunslerörlerung droht sich in
uferlosen Perspektiven zu verschwärmen, durch
die zugleich unserm Verhältnis zur Gegenwart
Blut und Kraft entzogen wird.

Erweist sich, daß nur eine neue religiöse
Bindung unserm Kulturkreis eine neue, starke
Kunst schenken kann; ist dieser Nachweis
glücklich von jedem Einzelnen einmal erbracht
worden*— so'wäre es*'doch wohl Zeit, den
Blick von dieser Sache, die man nicht erreden
und erschreiben, nur erwirken und erarbeiten
kann, abzuwenden und freundlich auf das künst-
lerische Tun unsrer Tage zurückzulenken.

Während wir das Auge auf fernsten, es-
chatologischen Triften weiden, sitzen unsre
Maler in den Ateliers, die Palette und den Pinsel
in der Hand, gegenwärtige Menschen vor gegen-
wärtigen Aufgaben, die sie nur lösen können
mit hilfreicher geistiger Unterstützung der Be-
rufenen. Es scheint mir richtig, ihnen diese gei-
stige Unterstützung wieder in erhöhtem Maße
zuzuwenden. Mehr wert als alle apokalyptischen
Beschreibungen des Neuen Kunst-Jerusalems
scheinen mir einfache, nützliche Handreichungen
zu dem Mühen der Maler, den Begriff der Natur
zurückzuerobern, festen Stand zu gewinnen in
den Geisteswirren der Zeit. Wir haben die
Pflicht, sie zu ermutigen, sobald sie sich redlich
und nüchtern auf die Gegebenheiten ihres Hand-
werks und ihres Charakters besinnen wollen.
Wir müssen ihnen sagen, daß sie sich durch die
allgemeinen Depressionszustände nicht sollen
abschrecken lassen, eine rechte Beziehung zum
Ewigen und Festen zu suchen, das heute wie
immer als Natur vor ihren Sinnen, als Geist vor
ihrer Erkenntnis steht. Es ist gewiß richtig, daß
es ein aktives Nichts in unsrer heutigen Geistes-
lage gibt, das vieles Feste gerade im Bereich
der Kunst aufgelöst hat. Aber wenn auch die
Vielen nicht mehr sehen, was am Himmel
und auf Erden fest ist, was im Geistigen als
granitenes Gesetz besteht, so wird das doch
keinen Einzelnen, der beides für sich wieder
entdeckt hat, abhalten dürfen, es als Künstler
stark aus sich herauszustellen. Wir sollten uns
entwöhnen, immer nur zu fragen, wohin die
Gesamtreise unserer Kulturgemeinschaft
geht, ob in den Untergang oder in eine neue
Götterzeit; wir sollten vielmehr feststellen,
daß es zu jeder Stunde und an jedem Orte
möglich ist, ein vollwerliger Mensch zu sein
und vollwertige Arbeit zu leisten. Kraft oder
Ohnmacht der Zeit sind sehr wichtige Bestim-
mungsgründe alles einzelnen Bemühens; aber
sie sind nicht die einzigen. Ebenso wichtige
Bestimmungsgründe sind die Erkenntnis der
geistigen Gesetze und die Beziehung zur Natur.

Wenn wir unsern Künstlern dazu helfen,
tüchtige, gewissenhafte Aussprecher des kern-
haft Wahren zu sein, das sie erkannt haben, so
tun wir Besseres zur Herbeiführung günstiger
Bedingungen der Kunst, als wenn wir nur immer
das Ziel beschreiben und es zugleich fern an
den Horizont heben, hinter unwegsame Meere,
an deren Küsten nicht Floß noch Kahn liegt__

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