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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 50.1922

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Briele, Wolfgang van der: Geschäftshaus Schröder & Baum in Dortmund
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Michel, Willhelm: Der künstlerische Mensch
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https://doi.org/10.11588/diglit.9143#0190

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emil pohle • adolf ott.

>schnitzerei am tapetenschrank«

DER KÜNSTLERISCHE MENSCH.

Der künstlerische Mensch ist der wesentlich
lebendige Mensch. — Die kunstfremden
Menschen hängen am Buchstaben, an der Haut
der Ereignisse, an der Vergangenheit, besten-
falls an der Gegenwart. Die Künstler und ihre
Genossen hängen an der Kraft, die den Buch-
staben von gestern schuf und die den Buch-
staben von morgen zu erschaffen im Begriffe ist.

Der Kunstfremde weiß nichts von Kraft. Er
kennt nur Zustand. Er liebt die Starre. Er
schätzt den Tod. Wenn er das Gegenteil be-
hauptet, sagt er die Unwahrheit. Denn er ist
außer Stande, zu begreifen, was den künstleri-
schen Menschen immer wieder aus dem Tod
ins Leben, aus gesichertem Besitz ins unge-
wisse, bunte Abenteuer treibt.

Der künstlerische Mensch ist der wesentlich
bewegte Mensch. Der Kunstfremde ist und
liebt das Beharren. Ist nicht eine gleiche Kraft
in allen wechselnden Verfestigungen? Ein ge-
heimer, durchtönender Sinn in allen vorüber-
fliehenden Verleihungen? An diese Kraft ist
der künstlerische Mensch verkauft, diesem Sinn
hängt er an. Er kennt beide als Natur, vor
seinen Sinnen stehend; als Geschehen in den
Beziehungen zwischen Menschen; als Ent-
wicklung im Bereich der geistigen Dinge.
Werdensfrömmigkeit ist die Grundstimmung
seines Daseins. Erfährt auf dem breiten, tiefen
Strom. Der andre sitzt am Ufer und sieht ihm
zu, selten fröhlich und ergötzt, meist mißtrauisch,
oft höhnisch und erbittert. Und doch kommt
immer wieder die Stunde, wo er ängstlich und
tappend das Boot der Fahrenden betreten muß,
um sich von ihm einige Tagereisen weiter
schleppen zu lassen. Das Fährgeld zahlt er aus
in Gestalt von Verwünschungen oder schiefen
Blicken. Ein undankbarer Kamerad. Er liebt
immer seine Umschalungen und vergafft sich in
deren Grundriß und Ornamentik. Er vergißt

immer, daß der künstlerische Mensch es ist, der
diese Umschalungen gebaut hat. Kommt dieser
dann aber, wenn es Zeit ist zu einer neuen
Verleihung, mit Hammer und Meißel, das alte
Haus zu zerschlagen und den darin Steckenden
herauszuretten, dann gibt es Streit und Pro-
teste. Das Rettungswerk der Eingekapselten
erfolgt stets gegen deren Willen. Und doch
muß es geschehen, damit die Fühlung zwischen
dem lebendigen Geist und den Formen nicht
verloren geht.

Der künstlerische Mensch ist der ewige Ver-
lebendiger der Welt. Er ist immer rüstig zum
Aufbruch. Er ist Soldat des Geistes, Hand-
werksmann des „Sinnes", Organ der Kraft,
Schwert des Herrn. Ohne ihn wäre das Leben
der Erde längst in den Mutterboden hinein-
gefault. Oder es wäre zum Kristall erstarrt.

Der künstlerische Mensch ist der fromme
und gläubige Mensch. Weil er die Kraft in
sich spürt, kann er nicht an ihr zweifeln. Weil
er eins ist mit dem ewig Siegreichen, kann er
nicht mißtrauen oder verzagen. Weil er im
Dienst der Weltvernunft steht, kann er nicht
kritteln. Was macht es dem Künstlermenschen
aus, wenn eine alte Form zerfällt? Er weiß
sich doch im Mitbesitz der Gewalt, die jene
alte Form erschuf, die sie zerbricht und eine
neue Form erschaffen wird. Zweifeln ist das
Recht der Ungeistigen. Wer den Geist in sich
weiß, ist an die helle Zuversicht „himmlisch
verkauft" und darf nicht mehr in das Exil der
Traurigkeit und des Zweifels zurückkehren.

So wirkt die echte künstlerische Geisteslage
aus dem engeren Bezirk des Künstlerschaffens
hinüber in den vollen Bereich des Menschseins,
streift nahe an die Seelenverfassung des Weisen
und des Frommen heran, geht tief in das prak-
tische Verhalten ein, ist die Grundlage für alle
Erhaltung und Mehrung des Lebens. ... w. m.

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