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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 50.1922

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Luethgen, Eugen: Carlo Mense - München
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Niebelschütz, Ernst v.: Das Geheimnis des Primitiven, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.9143#0075

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DAS GEHEIMNIS DES PRIMITIVEN.

von ernst v. niebelschütz.

Ein den Meisten zunächst nicht eben belang-
reich erscheinendes Ereignis hat mir jüngst
tiefe und erschöpfende Aufschlüsse über die
Kunst und ihr Verhältnis zum Leben geschenkt.
Es war ein Besuch im Hamburger Museum für
Völkerkunde, also einer Anstalt, die, wie der
Name ja schon sagt, nicht eigentlich der Kunst
gewidmet ist, sondern ethnographischen Zwek-
ken dient und damit vorzugsweise wissenschaft-
liche Belehrung spenden will. Aber merkwür-
dig — diese ganze, systematisch geordnete
Masse von Gebrauchsgegenständen der soge-
nannten „Naturvölker" vom Kanoe bis zum
Fingerring erschien mir in dieser kurzen Stunde
unter einem ganz bestimmten Gesichtswinkel.
Der Nutzwert all dieser Dinge trat entschieden
in den Hintergrund, umso zwingender drängte
sich mir ihr rein künstlerischer Gehalt auf.
Nur daß das Wort „Kunst" plötzlich einen ganz
neuen, von der landläufigen Bedeutung völlig
abweichenden Sinn erhielt. Kunst und Leben
rückten auf einmal unwahrscheinlich nah anein-
ander — nein, sie flössen in einem breiten ge-
meinsamen Strome, sodaßmansie garnicht mehr
unterscheiden konnte, dem gleichen, unbe-
kannten Ziele zu. Aus dem simplen Lenden-
schurz jedes beliebigen Südseeinsulaners sah
mich die Kunst an — gleichsam mit großen,
erstaunten Augen, als wunderte sie sich über
diese typisch europäermäßige „Entdeckung".
Und umgekehrt — vor jedem dieser fratzenhaft
ausdruckstarken Idole, vom Künstler sinnreich
geschnitzt und mit grellen Farben bemalt, emp-
fing ich den Eindruck: dies ist Leben! wenn
freilich auch Leben mit einem höheren, poten-
zierteren Wirkungsgrad. Hier ist Kunst nicht,
wie bei uns, eine dem Luxus dienende Begleit-
erscheinung des Lebens, auch nicht ein gegen
die Lebensnot aufgerichteter Damm, sondern
das Ergebnis eines Wachstumszwanges, eine
organische Kraftäußerung von so selbstver-
ständlicher Vitalität, daß ich wirklich zweifle,
ob die Menschen, die sie ausüben, sich eines
besonderen Namens für sie bedienen. Kunst
und Leben setzt eine — in den meisten Fällen
wohl unbewußte — Trennung beider, eine Ab-
grenzung von Interessensphären voraus. Es ist
unser Fall. Wo aber Kunst und Leben aus
derselben Quelle fließen und die gleiche Bewe-
gungsrichtung haben, wären, sollte ich meinen,
gesonderte Bezeichnungen für beide sinnlos.
Irre ich nicht, so liegt gerade hier, in dieser

grandiosen Totalität, der Hauptanreiz, den
die primitive Kultur der Negervölker auf den
heutigen Europäer ausübt. Die Ganzheit ihrer
Existenz ist es, die uns blasierte Kulturmenschen
plötzlich zu Schülern der „Wilden" macht. Oh,
über diese Kultur! Was hat sie uns nicht alles
gegeben! Was hat sie uns nicht alles genom-
men! Vielleicht — so paradox es klingt — die
Kultur selber! Denn worin besteht Kultur an-
ders als darin, daß sie alle Lebensäußerungen
unter einen Generalnenner faßt, daß auch die
Kunst, dieser Inbegriff zeugenden Daseins, in
dem allgemeinen Blut Umlauf kreist? Es unter-
liegt gar keinem Zweifel, daß die Kunst in West-
europa eine isolierte, mit den übrigen großen
Lebensmächten nur noch locker zusammen-
hängende Größe ist, die sich nur gewaltsam,
unter Zuhilfenahme klug ersonnener Theoreme,
jenem imaginären Ganzen, das wir reichlich an-
spruchsvoll unsere „Kultur" nennen, einordnen
läßt. Diese sogenannte Kultur — die es mit
Dingen, aber nicht mit Menschen und deren
Veredelung zu tun hat —■ gleicht einem präch-
tigen aber schlecht komponierten Teppich, der
wohl materiell eine Einheit bildet, nicht aber in
einem höheren, ästhetischen Sinne, weil alle
Ornamente unharmonisch nebeneinanderstehen,
d. h. in Form und Farbe den Eindruck des
Ganzen wieder zerstören helfen. Der Teppich
der primitiven Kulturen ist viel einfacher, ding-
lich weniger kostbar, aber er ist ein einheit-
liches Gebilde. Was gibt uns also das Recht —
dies war die Frage, die ich mir beim Verlassen
des Museums vorlegte — hochmütig auf eine
Kultur hinabzusehen, die im allein entscheiden-
den Punkte der unsern nicht nur überlegen ist,
sondern die vermöge des Wertinhalts, mit dem
sie sich zu füllen weiß, dem Begriff „Kultur"
überhaupt erst einen lebendigen Sinn gibt?
So wurde mir dieser Museumsbesuch zum Er-
lebnis. Er lehrte mich das Geheimnis des Primi-
tiven entdecken.

Unter „primitiv" pflegen wir das Anfängliche,
Knospenhafte einer Entwicklung zu verstehen,
alles Unfertige, jugendlich Befangene, was noch
eine Zukunft hat. Diese Betrachtungsweise
schaltet also die Idee des Fortschritts als
Maßstab keineswegs aus. Im Gegenteil — sie
wertet das Primitive als Etappe, als Unterstufe
einer noch zu erreichenden größeren Vollkom-
menheit, die damit immer als das Ziel am Hori-
zont der Betrachtung steht. (Fortsetzung s. ii 6.)

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