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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 50.1922

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Muth, H.: Ethische Kunstanzweiflung
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https://doi.org/10.11588/diglit.9143#0155

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PAUL
SCHEURICH.
»DEKORATIVE
WANDPLATTE«

ETHISCHE KUNST-ANZWEIFLUNG.

Form überhaupt und Kunstform im beson-
deren haben ihren Platz unter den tathaf-
ten Dingen der Erde. Form ist Tat, denn sie
ist Überwindung des Gestaltlosen, sie ist Über-
führung des Bedrohlich-Chaotischen in leben-
fördernde Gestalt.

Wir sehen nun den Sinn für das Tathafte der
Form in gewissen kritischen Lagen der Men-
schenseele in Gefahr geraten. Das ereignet sich
im Leben der Einzelnen wie der Völker. Man
steht z. B. vor der Tatsache, daß Kunst-
zweifel auftauchen in fast allen Zeiten krisen-
hafter Übergänge von alten Zuständen zu neuen.
Solche Zeiten innerer oder äußerer Umstellung
sind immer ethisch gerichtete, oft ethisch be-
sessene Zeiten. Sie neigen dazu, Form als etwas
zu betrachten, das neben dem Leben steht, das

zweitrangig und fast schmarotzerhaft ist. Sie
verlieren aus dem Auge, daß alles menschliche
Tun in der Formleistung seine Krönung findet.
Die Anfänge des Christentums gehen mit einer
ausgesprochenen Befehdung der Kunst einher.
Die englische Revolution war schroff kunst-
feindlich gestimmt. Die französische Revolution
wollte Kunst nur gelten lassen als Mittel zur
Verherrlichung vaterländischer, also ethischer
Tugenden. Dazu kommen als wichtige Eides-
helfer die Künstler und Dichter, die an irgend
einem Punkt ihres Lebens aus der Kunst heraus-
traten und ins Religiös-Sittliche hinübergingen.
Man mag da an die Fälle Beardsley oder Bren-
tano denken ; auch Michelangelo und neuerdings
Tolstoi, Könner gewaltigen Ausmaßes, türmen
sich als riesige In-Frage-Steller der Kunst auf.

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