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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 50.1922

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Kehrer, Hugo: Jean Auguste Dominique Ingres
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https://doi.org/10.11588/diglit.9143#0129

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JEAN AUGUSTE DOMINIQUE INGRES.

VON HUGO KEHRER.

Die Kunst scheint sich heute nach rückwärts
und zwar nach den großen Meistern der
reinen Linie, der klassischen Form, orientieren
zu wollen. Die Kunst der Zukunft, heißt es, soll
einmal wieder nicht den bloß bewegten Schein
der Welt auffangen, soll nicht nur das Seelische
zum Ausdruck bringen, sondern versuchen, den
Tasterfahrungen über das Wirkliche gerecht zu
werden. Geben wir es zu, der Expressionismus
hat bis zur Unkenntlichkeit die Linie zerschlagen
und die Form zerstört. Will man die Welt von
neuem wieder aufbauen, so bleibt darum nichts
andres übrig, als die Form in tastbare Sicht-
barkeit zu bringen, ihr feste Gestalt zu geben
und ihren plastischen Gehalt zu ermitteln. Wenn
nicht alle Anzeichen trügen, werden wir einem
neuen Zeitalter der Kunst entgegengehen, —
ja, es hat wohl schon begonnen —, in dem wie-
der der Stil linear, die Zeichnung rein ist, das
Lineare vorherrscht, anders ausgedrückt, in dem
die Linie als das führende Element auftritt.
Natürlich sind auch im Expressionismus Linien
wie in jedem Stile vorhanden. Allein mit Hein-

rich Wölfflin sagen wir; „nicht, daß überhaupt
Linien da sind, entscheidet über den linearen
Stilcharakter, sondern erst der Nachdruck, mit
dem sie sprechen, die Macht, mit der sie das
Auge zwingen, ihnen zu folgen".

Nun gelten im strengen Sinne als die großen
Meister des klassischen Linearismus Raphael
und Lionardo, Dürer und Holbein, in einem
freieren Sinne die Klassizisten, die auf jene
aufbauen. Unter den Klassizisten steht Jean
Auguste Dominique Ingres in vorderster
Linie. Dieser 1781 in Montauban geborene
Franzose war in seiner Jugend nach Paris ge-
gangen. Damals war Jacques Louis David der
„Gesetzgeber des Geschmackes". Ingres ver-
dankt David viel, er hat bei ihm gründlich zeich-
nen gelernt. Doch als er 1806 nach Rom ging,
soll er geäußert haben: „Wie hat man mich
betrogen" ! Vor Raphael sank er auf die Knie,
und es war seine Meinung, daß „Menschen, die
neben Raphael noch Murillo und Velazquez
lieben können, nie in das erhabene Verständnis
des Schönen eingedrungen seien". In seiner

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