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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 50.1922

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Niebelschütz, Ernst von: Betrachtungen zur Bilanz des Expressionismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.9143#0266

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Betrachtungen zur Bilanz des Expressionismus.

eine Bedeutung beimißt, die ihm in künstlerisch
anspruchsvolleren Zeiten nur dann zugestanden
wurde, wo ihm ein entsprechendes Können
warnend zur Seite stand. Eine Kunst, die nicht
irgendwie Ausdruck wäre, ist schlechterdings
undenkbar. Eine Kunst aber, die nur Ausdruck
sein will, die dem polaren Prinzip (der Natur)
ex offizio den Krieg erklärt und dies als Dogma
verkündigt, läuft mangels eines antwortenden
sinnlichen Gegenbildes nicht allein dauernd
Gefahr, gemalte Psychologie zu werden — sie
liefert sich schließlich auch selbst der Inkom-
petenz aus, indem sie die Nichtinspirierten, also
die Mehrzahl, auf eine leere Formel verpflichtet
und damit ein Maß von Unsolidität erzeugt, mit
dem belastet sie sich totlaufen muß. Die Natur
mißachten dürfen nur die ganz Wenigen, die
den Jakobskampf mit ihr bis zu Ende gekämpft
haben. Denn Kunst ist Beherrschung des Stoffes
durch geistige Form. Wer aber den Gegner
gar nicht kennen gelernt hat, vielmehr ein ab-
straktes Sehschema als Glaubenssatz übernimmt,
ist ebenso eine Figurine in dem großen Puppen-
tanz der Mode wie der mit den bekannten drei
Kreuzen stigmatisierte Akademiker der alten
Schule, nur daß er nicht wie dieser eine äußere
Norm als Revisionsinstanz über sich fühlt.

Der Expressionismus pflegt sich als abstrakte
Kunst mit Vorliebe auf angeblich analoge Er-
scheinungen des Mittelalters zu berufen, und
zweifellos verdanken wir ihm hier Erkenntnisse
von Wert. Die Gotik hat er uns, wenn auch
oft propagandistisch gefärbt, wiedergeschenkt.
In die entlegensten Weltwinkel hat er uns ge-
führt und uns mit Kulturen bekannt gemacht,
die uns unter der Tyrannis des Naturalismus
verschlossen waren. Dafür sei ihm Preis und
Dank! Nur schickt sich Eines nicht für alle.
Auf die kulturellen und sonstigen Voraus-
setzungen kommt es an. Man kann sich nur
innerhalb seines eigenen Kultursystems vollen-
den, wenn anders das Streben nicht Maskerade
werden soll. Die Kunst des Mittelalters ist
das Resultat eines ganz natürlichen Wachs-
tumsprozesses, ein organisches Sichentwickeln
vom Flächenschema zu immer differenzierterer
Körperform, womit keineswegs ein absoluter
Fortschritt im Sinne einer stufenweisen Ver-
besserung gemeint sein soll. Der dogmatische
Expressionismus dagegen ist im Grunde eine

Anomalie, er ist der Ausdruck der Mentalität
eines mit dem erreichten Zivilisationsstand Un-
zufriedenen , der aus seiner gewiß nicht unbe-
rechtigtenEnttäuschung den nihilistischen Schluß
zieht, zur Ermöglichung der neuen Kunst müßten
erst einmal die uralten Mauern des bisherigen
Kulturgebäudes abgetragen werden. Denn das
Verlangen, das natürliche Vorbild zu negieren,
läuft einer wesentlich intellektualistisch er-
zogenen und mit einer ungeheuren Bildungs-
masse behafteten Menschheit gegenüber auf
radikale Verneinung hinaus. Es inhäriert auch
eine Folge der merkwürdigsten Widersprüche.
Der Expressionismus will das anonyme Werk —
in der Theorie! In Wirklichkeit ist er schranken-
los subjektivistisch. Er mag sich hundertmal
über das Ausbleiben der so sehnlich ge-
wünschten Gefolgschaft und tausendmal über
den blöden Wirklichkeitssinn des zivilisierten
Europäers beschweren — die Stunde wird doch
einmal schlagen, wo ihm die Erkenntnis kommt,
daß man mit einer heroischen Geste den Kultur-
zeiger nicht einfach zurückstellen kann. Es ist
ein fundamentaler Irrtum zu glauben, der Grad
der Entfernung vom natürlichen Objekt sei
für den Wert eines Kunstwerks entscheidend.
Das wäre genau so äußerlich gedacht wie die
Behauptung des Gegenteils. Entscheidend ist
allein der Grad des inneren, des geistigen Hinaus-
gewachsenseins über den Gegenstand, der selbst
darum in seiner Struktur nicht im Geringsten
verändert zu werden braucht. Ein Bild von
Leibi verlangt vom Betrachter gewiß nicht
weniger als ein extrem expressionistisches, eher
sogar mehr, weil es ihm die geistige Arbeit der
Übersetzung der Natur in Form nicht erspart.

Es ist möglich, daß man später einmal über
die Kunst unserer Tage mit einer Geschwindig-
keit hinweggehen wird, die für den seelisch mit
ihr verbunden Gewesenen etwas Beleidigendes
hat — mit derselben Geschwindigkeit vielleicht,
mit der man heute etwa jene Periode der
römischen Kaiserzeit behandelt, die, übersättigt
wie sie war, sich in dem Anachronismus gefiel,
griechische Primitivitäten nachzustammeln. Ich
sage, es ist möglich! Denn wer wollte sich er-
kühnen, heute schon über eine Bewegung ab-
schließend zu urteilen, der wir noch viel zu nahe
stehen, um sie in ihrer wahren historischen Be-
deutung fixieren zu können....... e. v. n.
 
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