Nr. 39.
HEIDELBERGER
1846.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Held: De TTaciti Agricola·
(Schluss.)
Nach dieser in allen Theilen so überaus schwachen Beweisführung wird
man begierig seyn zu erfahren, wer denn eigentlich der Autor des so verrufe-
nen Büchleins seyn soll, und in welcher Zeit es etwa entstanden sey. Ueber
beide Fragen weiss Hr. H., wie ein Kenner der römischen Literatur leicht er-
rathen wird, nicht einmal eine bestimmte Vermuthung zu äüssern. Seine ganze
Hypothese besteht in folgenden Worten: Cum pateat in plerisque laudem ora-
toriam magis affectatam videri quam virtutem probi rerum auctoris, facile sus-
piceris rhetorem aut grammaticum aliquem delectatum dicendi genere, quo Ta-
citus usus est in Ann. et Hist., postquam decrevisset vitam componere Agricolae,
imitatorem huius scriptoris extitisse. Dieser Rhetor soll nun das historische De-
tail aus den verloren gegangenen Geschichtsbüchern des Tac. geschöpft und
vielleicht oft Stellen wörtlich in seine Biographie aufgenommen haben. Wie der
Autor die uns verlorenen Historien des Tac. benützt hat, müssen wir der Di-
vinationsgabe des Hrn. II. überlassen; uns genügt es, das kurze historische Re-
sume über die Thaten der Vorgänger des Agricola in Britannien mit den aus-
führlichen Schilderungen in den erhaltenen Geschichtswerken des Tac. zu ver-
gleichen; eine Vergleichung, welche lehrt, dass die historischen Angaben auf
das Genaueste zusammenstimmen, die Darstellung selbst aber immer mit solcher
Freiheit behandelt ist, dass sich nicht ein einziger Satz nachweisen lässt, der
von der eineu Schrift in die andere übertragen wäre. Es war also Tacitus je-
denfalls so glücklich, wenigstens einen sehr selbständigen, eigener Kraft nicht
unbewussten Compilator gefunden zu haben. Konnte Ur. II. über die Persön-
lichkeit des eingebildeten Verfassers auch gar keine Vermuthung mittheilen, so
hätte er doch wenigstens nicht vergessen sollen, eine Reihe von Schriftwerken
nach der Zeit des Tacitus nahmhaft zu machen, hinter denen die Kunst der
Darstellung in der vita beträchtlich zurückgeblieben ist. Wir fordern Hrn. Held
auf, Hand an das Herz zu legen, und sich ruhig die Frage zu beantworten,
ob er nur ein einziges späteres Schriftwerk, gross oder klein, sich nachzuwei-
sen vermöge, welches die stilistischen Vorzüge der vita auch nur von ferne
erreichet. Und ein solcher Schriftsteller, der in seiner Zeit keinen Geistesver-
wandten mehr gefunden hat, glaubte doch, um sich geltend zu machen, eine
fremde Maske borgen zu müssen’? Noch misslicher steht es mit einer solchen
Annahme, wenn man das bedeutsame Moment in die Wagschale legt, dass es
auch dem begabtesten Stilisten niemals gelingen wird, wenn er aus sich her-
austretend die Denk- und Darstellungsweise eines fremden Autors zu erheucheln
versucht, die gleiche Höhe in der Kunst der Darstellung zu erreichen, die er in
XXXIX. Jahrg. 4. Doppelheft. 39
HEIDELBERGER
1846.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Held: De TTaciti Agricola·
(Schluss.)
Nach dieser in allen Theilen so überaus schwachen Beweisführung wird
man begierig seyn zu erfahren, wer denn eigentlich der Autor des so verrufe-
nen Büchleins seyn soll, und in welcher Zeit es etwa entstanden sey. Ueber
beide Fragen weiss Hr. H., wie ein Kenner der römischen Literatur leicht er-
rathen wird, nicht einmal eine bestimmte Vermuthung zu äüssern. Seine ganze
Hypothese besteht in folgenden Worten: Cum pateat in plerisque laudem ora-
toriam magis affectatam videri quam virtutem probi rerum auctoris, facile sus-
piceris rhetorem aut grammaticum aliquem delectatum dicendi genere, quo Ta-
citus usus est in Ann. et Hist., postquam decrevisset vitam componere Agricolae,
imitatorem huius scriptoris extitisse. Dieser Rhetor soll nun das historische De-
tail aus den verloren gegangenen Geschichtsbüchern des Tac. geschöpft und
vielleicht oft Stellen wörtlich in seine Biographie aufgenommen haben. Wie der
Autor die uns verlorenen Historien des Tac. benützt hat, müssen wir der Di-
vinationsgabe des Hrn. II. überlassen; uns genügt es, das kurze historische Re-
sume über die Thaten der Vorgänger des Agricola in Britannien mit den aus-
führlichen Schilderungen in den erhaltenen Geschichtswerken des Tac. zu ver-
gleichen; eine Vergleichung, welche lehrt, dass die historischen Angaben auf
das Genaueste zusammenstimmen, die Darstellung selbst aber immer mit solcher
Freiheit behandelt ist, dass sich nicht ein einziger Satz nachweisen lässt, der
von der eineu Schrift in die andere übertragen wäre. Es war also Tacitus je-
denfalls so glücklich, wenigstens einen sehr selbständigen, eigener Kraft nicht
unbewussten Compilator gefunden zu haben. Konnte Ur. II. über die Persön-
lichkeit des eingebildeten Verfassers auch gar keine Vermuthung mittheilen, so
hätte er doch wenigstens nicht vergessen sollen, eine Reihe von Schriftwerken
nach der Zeit des Tacitus nahmhaft zu machen, hinter denen die Kunst der
Darstellung in der vita beträchtlich zurückgeblieben ist. Wir fordern Hrn. Held
auf, Hand an das Herz zu legen, und sich ruhig die Frage zu beantworten,
ob er nur ein einziges späteres Schriftwerk, gross oder klein, sich nachzuwei-
sen vermöge, welches die stilistischen Vorzüge der vita auch nur von ferne
erreichet. Und ein solcher Schriftsteller, der in seiner Zeit keinen Geistesver-
wandten mehr gefunden hat, glaubte doch, um sich geltend zu machen, eine
fremde Maske borgen zu müssen’? Noch misslicher steht es mit einer solchen
Annahme, wenn man das bedeutsame Moment in die Wagschale legt, dass es
auch dem begabtesten Stilisten niemals gelingen wird, wenn er aus sich her-
austretend die Denk- und Darstellungsweise eines fremden Autors zu erheucheln
versucht, die gleiche Höhe in der Kunst der Darstellung zu erreichen, die er in
XXXIX. Jahrg. 4. Doppelheft. 39