Kaltenborn: Geschichte des Natur- und Völkerrechts.
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die Würdigung· jener Schriftsteller im Zusammenhang der gan-
zen E n t w i c k e I u n g ist die Bekanntschaft mit der späteren Lehre nöthig.
Hier würde aber eine sehr allgemein gehaltene Skizze völlig genügt ha-
ben. Der Verfasser lässt sich noch zu sehr auf einzelne verhältnissmäs-
sig untergeordnete Schriftsteller ein und hebt dagegen die Hauptzüge der
Entwickelung nicht scharf genug hervor. Indess würde man ihm über-
haupt die ganze Nach Weisung des Zusammenhangs der „Vorläufer“ mit
dem späteren Naturrecht gern erlassen, wenn er dafür nur die Grundla-
gen, die jene Vorläufer von ihren Vorläufern überkommen haben, gründ-
licher dargestellt hätte. Die Vorläufer des Grotius auf dem Gebiet des
jus naturae et gentium stehen nämlich nicht so selbstständig und isolirt
da, als dass sich nicht ihre Ansichten nach Form und Inhalt grossentheils
auf gewisse gemeinsame Quellen zurückführen liessen. Von den prote-
stantischen Vorläufern gilt diess theilvveise in geringerem Grade, indess
selbst noch von Grotius in höherem als man gewöhnlich glaubt. Jene
Quellen sind besonders Aristoteles, das christliche Dogma, das Corpus juris
civilis et canonici. Indess kommen den Vorläufern diese Elemente nicht
mehr rein, sondern in der Appretur zu, die sie einerseits durch die
Scholastiker, anderseits durch die Civilisten und Canonisten erhalten haben.
Je nachdem die Vorläufer nun Theologen oder Juristen sind, halten sie
sich mehr au die scholastische oder an die juristische Tradition. Ohne
Kenntniss dieser Traditionen und weiterhin der Elemente, aus denen sie
bervorgegangen, ist kein rechtes Verständniss der Vorläufer möglich, und
es ist desshalb ein wesentlicher Mangel dieses Buchs, dass der Verfasser
so wenig auf das eingeht, was die Vorläufer von dem Mittelalter über-
nommen. Unserer Meinung nach mussten mindestens die Lieber gehöri-
gen aristotelischen Grundbegriffe gehörig erläutert werden, ohne welche
die Scholastiker und folgeweise die Späteren, ja zum Theil Grotius, un-
verständlich bleiben. Ohne z. B. den Unterschied des φύσει und νόμω
δίκαιον bei Aristoteles richtig gefasst zu haben, nämlich als Eintheilung
der gerechten Dinge fHandlungen, Einrichtungen u. s. w0, nicht
der Normen, des Rechts im objectiven Sinn, bleibt es ganz un-
klar, warum der heil. Thomas und später noch Lessius und Suarez u. A.
sagen, jus sei gleich jus tum, i. e. opus jus tum, und noch Grotius
als erste Bedeutung von jus anführt: „nihil aliud signiftcat, quam Qd}
quod justum est.“ Dann war mindestens die Lehre des h. Thomas,
als Hauptrepräsentanten der Scholastiker, gründlich darzustellen. Ferner
bedurfte es einer Darlegung der Begriffe und Ansichten, welche Civilisten
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die Würdigung· jener Schriftsteller im Zusammenhang der gan-
zen E n t w i c k e I u n g ist die Bekanntschaft mit der späteren Lehre nöthig.
Hier würde aber eine sehr allgemein gehaltene Skizze völlig genügt ha-
ben. Der Verfasser lässt sich noch zu sehr auf einzelne verhältnissmäs-
sig untergeordnete Schriftsteller ein und hebt dagegen die Hauptzüge der
Entwickelung nicht scharf genug hervor. Indess würde man ihm über-
haupt die ganze Nach Weisung des Zusammenhangs der „Vorläufer“ mit
dem späteren Naturrecht gern erlassen, wenn er dafür nur die Grundla-
gen, die jene Vorläufer von ihren Vorläufern überkommen haben, gründ-
licher dargestellt hätte. Die Vorläufer des Grotius auf dem Gebiet des
jus naturae et gentium stehen nämlich nicht so selbstständig und isolirt
da, als dass sich nicht ihre Ansichten nach Form und Inhalt grossentheils
auf gewisse gemeinsame Quellen zurückführen liessen. Von den prote-
stantischen Vorläufern gilt diess theilvveise in geringerem Grade, indess
selbst noch von Grotius in höherem als man gewöhnlich glaubt. Jene
Quellen sind besonders Aristoteles, das christliche Dogma, das Corpus juris
civilis et canonici. Indess kommen den Vorläufern diese Elemente nicht
mehr rein, sondern in der Appretur zu, die sie einerseits durch die
Scholastiker, anderseits durch die Civilisten und Canonisten erhalten haben.
Je nachdem die Vorläufer nun Theologen oder Juristen sind, halten sie
sich mehr au die scholastische oder an die juristische Tradition. Ohne
Kenntniss dieser Traditionen und weiterhin der Elemente, aus denen sie
bervorgegangen, ist kein rechtes Verständniss der Vorläufer möglich, und
es ist desshalb ein wesentlicher Mangel dieses Buchs, dass der Verfasser
so wenig auf das eingeht, was die Vorläufer von dem Mittelalter über-
nommen. Unserer Meinung nach mussten mindestens die Lieber gehöri-
gen aristotelischen Grundbegriffe gehörig erläutert werden, ohne welche
die Scholastiker und folgeweise die Späteren, ja zum Theil Grotius, un-
verständlich bleiben. Ohne z. B. den Unterschied des φύσει und νόμω
δίκαιον bei Aristoteles richtig gefasst zu haben, nämlich als Eintheilung
der gerechten Dinge fHandlungen, Einrichtungen u. s. w0, nicht
der Normen, des Rechts im objectiven Sinn, bleibt es ganz un-
klar, warum der heil. Thomas und später noch Lessius und Suarez u. A.
sagen, jus sei gleich jus tum, i. e. opus jus tum, und noch Grotius
als erste Bedeutung von jus anführt: „nihil aliud signiftcat, quam Qd}
quod justum est.“ Dann war mindestens die Lehre des h. Thomas,
als Hauptrepräsentanten der Scholastiker, gründlich darzustellen. Ferner
bedurfte es einer Darlegung der Begriffe und Ansichten, welche Civilisten