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Um der Liede willen.
Roman
von
Weinhold chrtmann.
Erstes Kapitel.
seines Dieners veranlaßte den Baron
Eberhard von Alten, für einen Moment von
seiner Arbeit aufzusehen. Schon seit einer
Stunde saß er am Schreibtisch, und die statt-
liche Anzahl von Briefen, die postfertig vor ihm lagen,
gab Zeugnis davon, daß er seine Zeit nicht verloren
habe.
„Was giblls?" fragte er mit einem kleinen Anflug
von Ungeduld. „Wünscht mich jemand zu sprechen?"
„Zu Befehl, Herr Baron! Es ist Herr Normann,
der um die Ehre bittet..."
„Er ist willkommen! Da, nehmen Sie einstweilen
diese Briefe und sorgen Sie dafür, daß sie noch mit
den Mittagsposten abgehen. Sie sind wichtig."
Während er rasch noch seinen Namen unter das
letzte Schreiben setzte, trat der Besucher ein.
„Guten Tag, mein lieber Wolfgang!" rief der
Baron ihm freundlich vom Schreibtisch her entgegen.
„Nur für einen Augenblick noch bitte ich um Entschul-
digung. Nehmen Sie Platz und bedienen Sie sich mit
einer Cigarrette dort aus hem Kästchen, wie wenn Sie
zu Haus wären! - So — und jetzt bin ich auch ganz
und gar zu Ihrer Verfügung."
Er stand auf und schüttelte dem andern herzlich die
Hand. Es war eine gewaltige Verschiedenheit in der
äußeren Erscheinung der beiden Männer, und sie wurde
nicht allein durch den Umstand bedingt, daß der Baron
um mindestens dreißig Jahre älter war als sein Be-
sucher. Sein Aussehen war unzweifelhaft das eines
vornehmen Mannes; aber sein Aristokratentypus war
nicht von der reckenhaften Art. An seiner mittelgroßen
Gestalt erschien alles sein und zierlich, ja, fast frauen-
haft zart. Sein etwas bleiches Gesicht wies die ruhigen
Züge eines Mannes auf, dem es seit früher Jugend
als unverbrüchliches Gesetz gegolten, seine Mienen zu
beherrschen wie seine Worte, und der Sorgfalt, welche
nicht nur auf seine Kleidung, sondern auch auf sein
ergrauendes Haupthaar und auf seinen schneeweißen
Uenri-guatra verwendet war, entsprach durchaus die
elegante Sicherheit seiner Haltung und die natürliche
Anmut seiner nicht sehr lebhaften Bewegungen.
Die hohe Gestalt des jüngeren Mannes überragte
ihn fast um eines Hauptes Länge. Kraftvoll und breit-
schulterig, mit einem frischen, offenen Gesicht und Hellen,
freiblickenden Augen, erschien er wie ein Urbild jugend-
licher Gesundheit und Elastizität, von wirklicher Schön-
heit aber war in seinem Antlitz nur die hohe, edel
gewölbte Stirn, und seine etwas derben Züge hatten
nichts von der seinen Vornehmheit seines Gegenübers.
„Sie haben lange auf sich warten lässen, lieber
Wolfgang," plauderte der Baron. „Auch ohne daß ich
Sie davon benachrichtigte, konnten Sie sich doch Wohl
denken, daß wir mit dem Beginn der Landtagssession
wieder von Lindenhof nach Berlin übergesiedelt seien."
„Ich las Ihren Namen wiederholt in den Sitzungs-
berichten, Herr von Alten, aber die Furcht, Ihnen
ungelegen zu kommen —"
„O, welch eine Besorgnis!" wehrte der Abgeordnete
freundlich ab. „Sie sollten doch wissen, daß ich Sie
immer gerne bei mir sehe. Ich habe wiederholt daran
Jllustr. Welt. 1894. l.
 
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