Der alte Knssmeyer.
Roman
W. Wenz.
(Fortsetzung.)
ältere Sohn der Witwe Schindler hatte
mehr Glück gehabt im Lebet: als sein Bruder
August, oder vielmehr, er hatte es besser
verstanden sich zu biegen und Zu schmiegen,
sich angenehm zu machen nach oben, und aus den
Schultern anderer sein Ziel zu erreichen. Als Lehr-
ling in das große Geschäft des Herrn Isidor Hei-
mann eingetreten, lernte er rasch die Behandlung des
Rohtabaks und die Beurteilung der Blätter kennen,
und wußte bald mit saft unsehlbarer Sicherheit das
Wertvollste herauszufinden bei den in der alten Börse
abgehaltenen Tabakauktionen. Er verbesserte die
Schneidemaschine und Dörrapparate, die Anfertigung
der Karotten mit bewunderungswürdiger Findigkeit,
und that dies alles, dank seinem natürlichen Verstände,
seinem besonders entwickelten Geruchsinne, gleichsam
spielend; mit einem Worte, er hatte sich bald unent-
behrlich gemacht. In kurzer Zeit war er zum Auf-
seher in der Fabrik avancirt mit einem für damalige
Verhältnisse recht ansehnlichen Gehalt, und nun begann
er, da er ein leidlich hübscher Mensch war, sich auch
bescheiden und gut einzuführen verstand, der einzigen
Tochter seines Prinzipals, Fräulein Sidonie Heimann,
sich zu nähern, und erlangte schließlich mit Hilfe ver-
schiedener Listen seiner Ängebeteten das Jawort der
Eltern, die sehr gern einen christlichen Schwiegersohn
acceptirten, und dann, einem „längst gefühlten Drange"
entsprechend, sich ebenfalls in den Schoß der christlichen
Gemeinde aufnehmen ließen.
Fräulein Sidonie war indes keineswegs eine
klassische Schönheit. Breit, mit einem ungewöhnlich
großen, massiven Gesichte begabt, dessen Nase an die
väterliche Abstammung zu erinnern schien, galt sie
dennoch in Herrn Schindlers Angen für einen be-
neidenswerten Schatz, denn sie hatte Geld, oder erbte
es doch einmal. Andererseits war Herr Schindler ein
Mensch nach dem Herzen des alten Heimann, denn
auch die Mutter des ersteren stand in dem Ruse, Be-
sitzerin eines hübschen Vermögens zu sein, das sie
immer noch zu mehren wußte.
Die Fabrik Heimann lag in: Stadtdeich, unmittel-
bar am alten Holzhasen; die Familie des Besitzers
aber bewohnte in der Stadt selbst, im Hanse Neueburg
Nr. 113, die zweite Etage; der übrige Teil des großen
Hauses war vermietet. Gleich nach der Verlobung
der Tochter kündigte Herr Heimann den Bewohnern
des ersten Stockes, sowie dem Inhaber des Ladens im
Parterre, stattete diesen mit allen: Luxus ans und er-
öffnete daselbst ein Detailgeschäst importirtcr und selbst-
gefertigter Cigarren, Tabake und so weiter, welches er
dem Schwiegersohn anvertrante, der zum Kompagnon
avancirt war, den ersten Stock des Hauses bezog und
die Börsengeschäfte zugleich vermittelte.
Herr Schindler brachte den größten Teil des Tages
Dw neue Brücke über die Donau bei Munderkingen. Nach einer Photographie von K. Werner in Ehingen a/D. (S. 483.)
Jllustr. Welt. 1894. 20.
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