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Iweiurrdvier-zigster: Icrb^gcrrrg.

19. Heft.

SLuttgcrrrt, Leipzig, WeEn, Wien.

Im Urtz

Novelle
von
Äke.rander Htömer.
lTchluß.)
AMs ist wieder Mai,
der Wonnemond
mit seiner Blü-
tenpracht. Die Kirch-
Hofsböschung in Rons-
dorf ist noch blan von
Veilchen, die in diesem
Jahre später blühten
nnd sich länger hielten
als gewöhnlich. Die
Linden aus dem Palm-
berg tragen wieder ihr
erstes, frisch grünes
Laub, und dieselben
Menschen wie vor zwei
Jahren wandeln in ih-
rem Schatten.
Von der Stadtseite
her kommt Professor
Fritz Riek die Straße
gegangen mit der Reise-
tasche, die ihm am
Riemen über der Schul-
ter hängt. Ihm ist
warm geworden beim
Gehen, er steht öfter
still nnd trocknet die
feuchte Stirn. Die
Nachtigallen flöten in
den Büschen, er scheint
sich um. Alles unver-
ändert, frisch nnd hei-
matlich weht hier die
Luft. Die Straße ist
um diese Stunde men-
schenleer, ihm begegnet
keiner.
Er blickt hinüber
nach dem großen roten
Hause, welches die hohen
Linden fast verdecken,
und ans dessen Schorn-
stein sich eine kleine
Rauchsäule in dieblaue
Lust hinaufkrüuselt, zu
dem gastlichen Dach,
unter dem er vor gar
nicht langer Zeit schwer-
krank lag und so liebe-
voll gepflegt wurde.
Aber er schreitet jetzt
nicht darauf zu, seine
Füße wenden sich nach
dem Kirchhof, wo ihm
die beiden Eltern ruhen.
Frisch grünt dort der
Jllustr. Welt. 1894. 19.


Leee domo.
Nach dem Gemälde von Guido Reni in der Dresdener Gallerie. (S. 454.)

Rasen, und ein Strauß
von duftenden Mai-
lilien liegt daraus. Be-
wegt ruhen seine Augen
auf der Liebesgabe, er
weiß, wer sie dahin
gelegt hat.
Er steht lange sin-
nend an den Grübern,
die Erinnerungen fluten
auf und ab. Nein --
jetzt ist diese Stätte
ihm nicht mehr ent-
weiht — wie ein Sche-
men ist sie versunken,
die hier einst das Ver-
gißmeinnicht pflückte
Der Zauber ist gebro-
chen, aus der Dämon in,
die ihn in Banden hielt,
ist ein armes, bemit-
leidenswertes, in die
Irre gegangenes Men-
schenkind geworden,
über dessen Leben und
Schicksal er mit völlig
ruhigem Blut reflekti-
ren kann. Seine Seele
ist wieder klar nnd
gesund.
Jene finstere Stunde,
als man die Mutter
hier begrub, als in ihm
nur Nacht war und er-
sieh bösen Mächten an-
heimgefallen wähnte,
als er nur eine Sehn-
sucht hatte, auch sein
Dasein auszulöschen,
ist versunken. Heimkeh-
rende Fischer, die sein
Hilferuf erreichte, fan-
den uud retteten ihn
und den Armen, der
noch heute willig und
geduldig die schwere
Bürde feines Lebens
trug und ihm noch
dankte, als fei er feines
Lebens Retter. Der alte
Botemitdem gekrümm-
ten Rücken, dem der
Atem immer pfeifend
ans der Kehle ging
und der dennoch feine
gewohnten Märsche
machte bei Regen und
bei Sonnenschein, er
rühmte es aller Orten,
Doktor Riek habe ihn
in jener Stnrmnacht
gefunden nnd vor dem
Erfrieren bewahrt. Und
freilich nur um feinet-,
um des andern willen
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