ich kann noch nicht dafür einstehen, daß es mir auch
gelingen werde."
Ihre Worte klangen sehr kühl und überlegt für
ein um sein kaum erblühtes Liebesglück bangendes
Mädchen. Aber Wolfgang hörte aus ihnen nichts
anderes heraus als die süße, kaum erhoffte Verheißung,
und er hätte sich in diesem Augenblick geduldig jeder
Bedingung unterworfen, die ihm als Gegenforderung
für ihr beseligendes Bekenntnis auserlegt worden wäre.
„Lassen Sie uns umkehren!" sagte sie. „Und es
ist selbstverständlich, daß niemand erfahren darf, was
wir hier gesprochen haben. Wir bleiben gute Freunde
wie bisher und Sie dürfen keinen Menschen ahnen
lassen, daß Sie den Wunsch hegen, mir mehr zu sein
als ein Freund. Nur unter dieser Voraussetzung ist
es ja möglich, daß wir auch weiter miteinander ver-
kehren."
Bereitwillig versprach er, was sie begehrte, und
schneller, als sie hergekommen waren, gingen sie nach
dem Restaurationsgarten zurück. Die Baronin war
mißgestimmt über ihr langes Ausbleiben, denn es be-
gann sie zu frösteln, und sie erklärte, unter keinen
Umständen jetzt in der Abendkühle noch einmal aus
das Wasser zu gehen. Edith war sehr still, und auch
ihr schien der Ausflug nicht gut bekommen zu fein;
denn sie sah fast beängstigend blaß und müde aus.
So beharrlich blieb sie dicht an der Seite ihrer Tante,
als wolle sie jeder Möglichkeit Vorbeugen, in die Unter-
haltung der anderen gezogen zu worden, und ihre
braunen Augen vermieden es geflissentlich, den Blicken
des eben zurückgekehrten Paares zu begegnen.
Man hatte eine Viertelstunde bis zur Bahnstation
und man sprach nicht viel aus dem Wege durch den
dämmernden Wald. Da mahnte Viktor die Voran-
schreitenden durch einen Zuruf zur Vorsicht, denn er
hatte den Husfchlag eines Pferdes aus dem weichen
Waldboden vernommen. Man blieb stehen, um den
Reiter vorüber zu lassen, der in raschem Galopp aus
der Richtung von Potsdam dahingesprengt kam. Es
war ein schlanker junger Herr in sehr elegantem Zivil-
anzuge, uud er saß wie angegossen auf seinem schönen,
feurigen Pferde. Als er des Regierungsassessors an-
sichtig wurde, lüftete er sehr artig seinen Hut, indem
er zugleich die Zügel straffer zog.
„Guten Abend, Graf Apraxin!" rief ihm Viktor
niit dem Ausdruck einer angenehmen Ueberraschung zu.
„Ich bin erstaunt, daß Sie sich schon ohne alle Füh-
rung aus so weite Ausflüge wagen."
Der Angeredete lächelte, und unter dem weichen,
dunklen Schnurrbärtchcn zeigten sich zwei Reihen blen-
dend weißer Zähne. Er hatte sein Pferd fast aus der
Stelle zum Stehen gebracht und sein auffallend hübsches,
fast frauenhaft weiches Gesicht der Gesellschaft zu-
gewendet.
„O, ich habe einen vorzüglichen Ortssinn," sagte
er in bestem Deutsch, doch mit ganz unverkennbarem
slavischem Accent. „Und dann fehlt es ja auch nicht
an Wegweisern in Ihrem zivilisirten Vaterlande. Ich
habe mich bei manchem Ritt durch die Steppe kümmer-
licher behelfen müssen."
Es war etwas sehr Verbindliches und Gewinnen-
des in seinem Wesen wie in dem melodischen Wohl-
laut seiner Stimme. Seine großen, schwarzen, sammet-
glänzenden Augen, die sich jetzt aus das Antlitz Mar-
gots richteten, waren von geradezu außergewöhnlicher
Schönheit.
„Gestatten Sie mir, Herr Graf, Sie mit meiner
Familie bekannt zu machen," sagte Viktor, der wahr-
zunehmen glaubte, daß er damit einem unausgesproche-
nen Wunsche des andern entgegenkam. „Graf Arkadi
Apraxin aus Sankt Petersburg — meine Mutter —
meine Schwester meine Base, Fräulein von Rothen-
burg — Herr Wolfgang Normann, ein Freund un-
seres Hauses."
Der russische Gras hatte sich bei jeder einzelnen
Namensnennung artig verbeugt; seine schönen Augen
aber kehrten sogleich auf Margots Gesicht zurück, dessen
wunderbare Regelmäßigkeit ihm trotz der Dämmerung
ausgefallen sein mußte.
„Ich habe mehr als die Hälfte der Erde gesehen,"
plauderte er, seine Worte geradezu an die Baronesse
richtend, „aber ich bin, so seltsam es klingen mag,
zum erstenmal in Berlin. Und ich finde, daß man
des Schönen nirgends so viel bewundern kann als
gerade hier."
Mit dem feinen Gehör der Frau hatte sie sogleich
herausgefühlt, daß seine Worte nichts anderes sein
sollten als eine Schmeichelei für sie, und der musikalische
Wohlklang seiner Stimme, den der fremdartige Ton-
fall nur noch sympathischer machte, mußte sie sehr an-
genehm berührt haben, da sie überaus freundlich er-
widerte :
„Man findet das Schöne leicht überall, Herr Graf,
wenn man den rechten Blick und die rechte Empfäng-
lichkeit dafür hat. Und es mag wohl sein, daß die
Augen des Fremden besser und schärfer sehen als die
unsrigen."
Auch Viktor warf jetzt eine Bemerkung ein, und
HllustrirLe Welt.
die Unterhaltung war ein paar Minuten sehr lebhaft.
Dann mochte sich der Graf erinnern, daß es nicht
ganz schicklich sei, die Gesellschaft hier auf offener
Straße festzuhalten, und er lüftete wieder, sich verab-
schiedend, seinen Hut.
„Uebrigens zähle ich darauf, Herr Baron, Sie
recht bald bei mir zu sehen," wandte er sich noch im
letzten Augenblick gegen Viktor. „Es ist unter meinen
kleinen Reiseerinnerungen doch vielleicht manches, das
Sie interessirt."
Er sprengte davon, eine lebendige Verkörperung
von Ritterlichkeit und jugendlicher Kraft. Wolfgang
blickte aus seine Uhr und mahnte zur Eile, da mau
den Zug sonst leicht versäumen würde, und man er-
reichte trotz hastigen Laufes die Station erst in dem
Augenblick, da der Potsdamer Zug einfuhr. Der In-
genieur hatte sogleich ein leeres Coupo erspäht und
war den Damen beim Einsteigen behilflich. Fast in
demselben Moment, da die Thür hinter ihnen zugefallcn
war, fragte Margot:
„Wer ist dieser Graf Apraxin, Viktor? Warum
hast Du uns niemals von ihm gesprochen?"
„Weil ich erst seit weniger als einer Woche das
Vergnügen habe, ihn zu kennen. Ich traf ihn in der
Gesellschaft des Attaches Koljasin von der russischen
Botschaft, und wir haben uns eine Stunde lang recht
angenehm unterhalten. Er ist ein charmanter Gesell-
schafter, dieser vielgereiste Gras Arkadi."
„Wenn er nur zu seinem Vergnügen die Welt
durchstreift, ist er vermutlich sehr reich."
„Koljasin meint, die Familie sei eine der reichsten
in Rußland. Jedenfalls lebt er hier wie ein richtiger
Grandseigneur."
„Und er wird sich nur vorübergehend in Berlin
aushalten?"
„Ich glaube mich zu erinnern, daß er sich in die-
sem Sinne äußerte. Aber wenn es ihm so gut gefällt,
wie seine vorige Bemerkung anzudeuten schien, ent-
schließt er sich vielleicht, uns das Vergnügen seiner
Gegenwart noch etwas länger zu schenken."
„Er lud Dich ein, ihn zu besuchen — wirst Du
es thun?"
„Wohl kaum! Unter den jetzigen Verhältnissen
ist solcher Umgang für mich nicht recht geeignet. Ich
darf keine Aufmerksamkeit annehmen, die ich nicht er-
widern kann."
„Aber ein Verkehr mit dem Grafen könnte Dir
nur von Nutzen sein. Solche Verbindungen sind später-
ost sehr wertvoll. Und dann," fügte sie nach einem
kurzen Zaudern entschlossen hinzu, „wäre es doch wohl
auch endlich an der Zeit, ein klein wenig Abwechslung
in unser Trappistenleben zu bringen. Wenn Arkadi
Apraxin ein so charmanter Gesellschafter ist, wie Du
sagst, warum bist Du noch nicht auf den Gedanken
verfallen, ihn bei uns einzuführen?"
„Bei uns?" fragte Edith, die bis dahin ganz still
gewesen war, erschrocken. „Aber, liebste Margot, wir
sind doch wahrhaftig nicht darauf eingerichtet, Gäste
zu empfangen."
„Er wird nicht der Bewirtung wegen kommen —
wenn er überhaupt kommt," erwiderte die Baronesse
ziemlich kurz. „Und wenn wir uns ewig unserer
Armut schämen wollen, werden wir auch ewig dazu
verdammt sein, dieses schreckliche Dasein langsamer
Selbstvernichtung zu führen. Ich begreife nicht, Viktor,
daß Du Dich noch niemals aus Deine Pflicht besonnen
hast, uns vor gänzlicher Vereinsamung zu bewahren."
Der Regierungsassessor wurde durch diesen Vorwurf
aufs höchste überrascht.
„Aber, mein Gott, ich hatte ja keine Ahnung, daß
euch etwas daran gelegen sei, Menschen zu sehen. Bis-
her Pflegtest Du Dich über diesen Punkt in ganz an-
derem Sinne zu äußern, liebste Margot."
„So habe ich eben meine Ansichten geändert. Aber-
natürlich — wenn es euch nicht erwünscht ist —"
„Warum sollen wir einen jungen Mann, den uns
Viktor zuführt, uicht gern empfangen?" mischte sich die
Baronin ein. „Ich gestehe, daß dieser Graf Apraxin
auch auf mich einen recht günstigen Eindruck machte."
„Nun meinetwegen! Ich will thun, was ich kann!"
rief Viktor, ohne aus seinem Erstaunen über die un-
erwartete Zumutung ein Hehl zu machen. „Aber mit
Gewalt werde ich ihn freilich nicht in Fräulein von
Plothows Pensionat schleppen können."
Sie hatten die erste der vielen kleinen Stationen
erreicht, und der Umstand, daß ein Passagier zu ihnen
ins Coupe stieg, verhinderte sie, das Gespräch fortzu-
sühren. Wolfgang Normann hatte sich daran mit
keinem einzigen Wort beteiligt; aber auch aus seinem
Gesicht hatte sich deutlich genug das Befremden ge-
spiegelt, mit welchem Margots Aeußerung ihn erfüllte.
Er suchte in ihren Zügen zu lesen, und es beunruhigte
ihn, daß er darin nichts wiederzufinden vermochte von
alledem, was ihn vorhin am Gestade des blauen Havel-
sees so namenlos besecligt hatte. Er zweifelte gar
nicht, daß sie jetzt nur eine Komödie spielte, um im
Gedächtnis der anderen die Erinnerung an ihren
langen Spaziergang zu zweien so rasch als möglich
111
zu verwischen und um jeden etwa geweckten Argwohn
im Keime zu ersticken. Aber in der täuschenden Natür-
lichkeit der Komödie war etwas, das ihn trotzdem be-
ängstigte und verstimmte. Er war nicht eifersüchtig
aus den Grasen Arkadi Apraxin und er grollte den-
noch dem Zufall, der ihnen den eleganten Kavalier
mit den Sammetaugen und dem musikalischen Wohl-
laut der Stimme gerade au diesem glücklichen Abend
in den Weg führen mußte.
Als er sich nach der Ankunft in Berlin von den
anderen verabschiedete, hoffte er vergebens auf eines
jener kleinen verstohlenen Zeichen des Einverständnisses,
in denen junge Liebe sonst so erfinderisch ist. Nicht
kühler und nicht freundlicher als sonst sagte Margot
ihm Gutenacht, und während sein Blick voll innigen
Flehens den ihrigen suchte, sah sie sich aufmerksam
nach einer Droschke um, als wäre sie nur noch von
dem Verlangen nach rascher Heimkehr erfüllt.
Lange nachher erst erinnerte sich der, Ingenieur
an den rührenden Ausdruck einer tiefen Schwermut,
den er bei diesem frostigen Abschied in den schönen
braunen Augen Ediths gesehen.
Vierzehntes Kapitel.
Durch irgend ein Geräusch auf der Straße geweckt,
fuhr Viktor mit wüstem, schmerzendem Kopfe aus blei-
schwerem Schlummer empor. Das fahle Licht eines
trüben Herbstmorgens fiel durch die herabgelasseneu
Vorhänge in das Zimmer und machte für die brennen-
den Augen des Assessors die erlogene, schäbige Eleganz
der aus zwanzig Trödlerläden zusammengesuchten
Einrichtung noch widerwärtiger als sonst. Er stöhnte
tief auf uud griff sich mit beiden Händen an die
fieberisch pochenden Schläfen.
„Aus!" sagte er laut vor sich hin. „Alles aus!
Hoffnungslos verloren!"
Wohl eine Viertelstunde lang saß er aufrecht auf
dem Lager und starrte mit leerem, gläsernem Blick
unverwandt auf den alten stockfleckigen Kupferstich an
der Wand, der ihm vom ersten Tage an so unsäglich
zuwider gewesen war.
Dann klopfte feine Wirtin und rief durch die ge-
schlossene Thür, daß sie den Kaffee schon zweimal,
wieder hinausgetragen habe. Wann der Herr Ne-
gierungsafsessor denn eigentlich heute fein Frühstück
haben wolle.
„Bringen Sie es nur herein!" rief er unwillig
und sprang auf. Aber ein Schwindel überkam ihn,
und er mußte sich au dem Bettpfosten festhalten, um
auf den Füßen zu bleiben. Der Anblick seines eigenen
Spiegelbildes, das ihm leichenfahl und mit dunkel
umränderten Augen aus dem schlechten, grünlichen
Glase entgegenstarrte, erfüllte ihn mit Entsetzen und
mit Abscheu gegen sich selbst. Er wandte sich ab, und
während er sich schwerfällig ankleidete, vermied er
ängstlich, noch einmal in den Spiegel zu sehen. Nie
hatte er eine so lange Zeit für seine Toilette gebraucht
als an diesem Morgen. Als er seine Taschenuhr von
dem kleinen Sammetkissen nahm, erschrak er aufs neue.
„Elf Uhr vorbei! Es ist zu spät, um noch in das
Ministerium zu gehen. Aber was habe ich da denn
auch jetzt noch zu suchen!"
Er ging mit müden Schritten in das Wohnzimmer,
das ihm unter der hochtönenden Bezeichnung eines
Salons vermietet worden war, und stellte sich an das
Fenster, offenbar ohne zu wissen, was er nun weiter
beginnen solle. Denn von dem gedeckten Frühstücks-
tische hatte er sich sogleich wieder mit einer Miene
des Ekels abgewendet. Er sah dem geschäftigen Treiben
aus der Straße zu, wie wenn er das alles zum ersten-
mal in seinem Leben beobachtete, und dabei murmelte
er von Zeit zu Zeit — wohl ohne sich dessen bewußt
zu werden — abgerissene Worte voll Bitterkeit und
Selbstverachtung vor sich hin.
Dann schien ihn plötzlich ein neuer Gedanke zu
durchzucken und er raffte sich auf.
„Es muß etwas geschehen!" rief er, gleichsam zu
seiner eigenen Ermutigung, fast überlaut. „Worauf
warte ich denn eigentlich noch? Es muß doch aus
der Stelle etwas geschehen!"
Er beendete seinen Straßenanzug und ging aus.
An der nächsten Ecke zwar blieb er eine Weile zaudernd
stehen; dann aber entschied er sich für eine bestimmte
Richtung und betrat endlich ein unansehnliches, altes
Haus in der Nähe des Oranienburger Thores.
„Martin Janeler, Rentner — zu sprechen von zehn
bis zwei" stand aus einem Porzellanschild über der
Glocke, die er mit energischem Ruck in Bewegung setzte.
Ein unsauberes Dienstmädchen that ihm auf und führte
ihn nach einem prüfenden Blick auf feine äußere Er-
scheinung, ohne ihn erst um feinen Namen zu befragen,
in das Zimmer ihres Herrn.
Herr Martin Janeler, ein Graukops von behäbigem,
gutmütigem Aussehen, las den Lokalanzeiger und
rauchte dabei aus einer langen Pfeife schlechten Tabak
von widerlich süßem Geruch. Ueber seine Brille hin-
weg, die ihm fast auf der Nasenspitze balancirte, sah
er nach dem Eintretenden hinüber und faltete dann.
gelingen werde."
Ihre Worte klangen sehr kühl und überlegt für
ein um sein kaum erblühtes Liebesglück bangendes
Mädchen. Aber Wolfgang hörte aus ihnen nichts
anderes heraus als die süße, kaum erhoffte Verheißung,
und er hätte sich in diesem Augenblick geduldig jeder
Bedingung unterworfen, die ihm als Gegenforderung
für ihr beseligendes Bekenntnis auserlegt worden wäre.
„Lassen Sie uns umkehren!" sagte sie. „Und es
ist selbstverständlich, daß niemand erfahren darf, was
wir hier gesprochen haben. Wir bleiben gute Freunde
wie bisher und Sie dürfen keinen Menschen ahnen
lassen, daß Sie den Wunsch hegen, mir mehr zu sein
als ein Freund. Nur unter dieser Voraussetzung ist
es ja möglich, daß wir auch weiter miteinander ver-
kehren."
Bereitwillig versprach er, was sie begehrte, und
schneller, als sie hergekommen waren, gingen sie nach
dem Restaurationsgarten zurück. Die Baronin war
mißgestimmt über ihr langes Ausbleiben, denn es be-
gann sie zu frösteln, und sie erklärte, unter keinen
Umständen jetzt in der Abendkühle noch einmal aus
das Wasser zu gehen. Edith war sehr still, und auch
ihr schien der Ausflug nicht gut bekommen zu fein;
denn sie sah fast beängstigend blaß und müde aus.
So beharrlich blieb sie dicht an der Seite ihrer Tante,
als wolle sie jeder Möglichkeit Vorbeugen, in die Unter-
haltung der anderen gezogen zu worden, und ihre
braunen Augen vermieden es geflissentlich, den Blicken
des eben zurückgekehrten Paares zu begegnen.
Man hatte eine Viertelstunde bis zur Bahnstation
und man sprach nicht viel aus dem Wege durch den
dämmernden Wald. Da mahnte Viktor die Voran-
schreitenden durch einen Zuruf zur Vorsicht, denn er
hatte den Husfchlag eines Pferdes aus dem weichen
Waldboden vernommen. Man blieb stehen, um den
Reiter vorüber zu lassen, der in raschem Galopp aus
der Richtung von Potsdam dahingesprengt kam. Es
war ein schlanker junger Herr in sehr elegantem Zivil-
anzuge, uud er saß wie angegossen auf seinem schönen,
feurigen Pferde. Als er des Regierungsassessors an-
sichtig wurde, lüftete er sehr artig seinen Hut, indem
er zugleich die Zügel straffer zog.
„Guten Abend, Graf Apraxin!" rief ihm Viktor
niit dem Ausdruck einer angenehmen Ueberraschung zu.
„Ich bin erstaunt, daß Sie sich schon ohne alle Füh-
rung aus so weite Ausflüge wagen."
Der Angeredete lächelte, und unter dem weichen,
dunklen Schnurrbärtchcn zeigten sich zwei Reihen blen-
dend weißer Zähne. Er hatte sein Pferd fast aus der
Stelle zum Stehen gebracht und sein auffallend hübsches,
fast frauenhaft weiches Gesicht der Gesellschaft zu-
gewendet.
„O, ich habe einen vorzüglichen Ortssinn," sagte
er in bestem Deutsch, doch mit ganz unverkennbarem
slavischem Accent. „Und dann fehlt es ja auch nicht
an Wegweisern in Ihrem zivilisirten Vaterlande. Ich
habe mich bei manchem Ritt durch die Steppe kümmer-
licher behelfen müssen."
Es war etwas sehr Verbindliches und Gewinnen-
des in seinem Wesen wie in dem melodischen Wohl-
laut seiner Stimme. Seine großen, schwarzen, sammet-
glänzenden Augen, die sich jetzt aus das Antlitz Mar-
gots richteten, waren von geradezu außergewöhnlicher
Schönheit.
„Gestatten Sie mir, Herr Graf, Sie mit meiner
Familie bekannt zu machen," sagte Viktor, der wahr-
zunehmen glaubte, daß er damit einem unausgesproche-
nen Wunsche des andern entgegenkam. „Graf Arkadi
Apraxin aus Sankt Petersburg — meine Mutter —
meine Schwester meine Base, Fräulein von Rothen-
burg — Herr Wolfgang Normann, ein Freund un-
seres Hauses."
Der russische Gras hatte sich bei jeder einzelnen
Namensnennung artig verbeugt; seine schönen Augen
aber kehrten sogleich auf Margots Gesicht zurück, dessen
wunderbare Regelmäßigkeit ihm trotz der Dämmerung
ausgefallen sein mußte.
„Ich habe mehr als die Hälfte der Erde gesehen,"
plauderte er, seine Worte geradezu an die Baronesse
richtend, „aber ich bin, so seltsam es klingen mag,
zum erstenmal in Berlin. Und ich finde, daß man
des Schönen nirgends so viel bewundern kann als
gerade hier."
Mit dem feinen Gehör der Frau hatte sie sogleich
herausgefühlt, daß seine Worte nichts anderes sein
sollten als eine Schmeichelei für sie, und der musikalische
Wohlklang seiner Stimme, den der fremdartige Ton-
fall nur noch sympathischer machte, mußte sie sehr an-
genehm berührt haben, da sie überaus freundlich er-
widerte :
„Man findet das Schöne leicht überall, Herr Graf,
wenn man den rechten Blick und die rechte Empfäng-
lichkeit dafür hat. Und es mag wohl sein, daß die
Augen des Fremden besser und schärfer sehen als die
unsrigen."
Auch Viktor warf jetzt eine Bemerkung ein, und
HllustrirLe Welt.
die Unterhaltung war ein paar Minuten sehr lebhaft.
Dann mochte sich der Graf erinnern, daß es nicht
ganz schicklich sei, die Gesellschaft hier auf offener
Straße festzuhalten, und er lüftete wieder, sich verab-
schiedend, seinen Hut.
„Uebrigens zähle ich darauf, Herr Baron, Sie
recht bald bei mir zu sehen," wandte er sich noch im
letzten Augenblick gegen Viktor. „Es ist unter meinen
kleinen Reiseerinnerungen doch vielleicht manches, das
Sie interessirt."
Er sprengte davon, eine lebendige Verkörperung
von Ritterlichkeit und jugendlicher Kraft. Wolfgang
blickte aus seine Uhr und mahnte zur Eile, da mau
den Zug sonst leicht versäumen würde, und man er-
reichte trotz hastigen Laufes die Station erst in dem
Augenblick, da der Potsdamer Zug einfuhr. Der In-
genieur hatte sogleich ein leeres Coupo erspäht und
war den Damen beim Einsteigen behilflich. Fast in
demselben Moment, da die Thür hinter ihnen zugefallcn
war, fragte Margot:
„Wer ist dieser Graf Apraxin, Viktor? Warum
hast Du uns niemals von ihm gesprochen?"
„Weil ich erst seit weniger als einer Woche das
Vergnügen habe, ihn zu kennen. Ich traf ihn in der
Gesellschaft des Attaches Koljasin von der russischen
Botschaft, und wir haben uns eine Stunde lang recht
angenehm unterhalten. Er ist ein charmanter Gesell-
schafter, dieser vielgereiste Gras Arkadi."
„Wenn er nur zu seinem Vergnügen die Welt
durchstreift, ist er vermutlich sehr reich."
„Koljasin meint, die Familie sei eine der reichsten
in Rußland. Jedenfalls lebt er hier wie ein richtiger
Grandseigneur."
„Und er wird sich nur vorübergehend in Berlin
aushalten?"
„Ich glaube mich zu erinnern, daß er sich in die-
sem Sinne äußerte. Aber wenn es ihm so gut gefällt,
wie seine vorige Bemerkung anzudeuten schien, ent-
schließt er sich vielleicht, uns das Vergnügen seiner
Gegenwart noch etwas länger zu schenken."
„Er lud Dich ein, ihn zu besuchen — wirst Du
es thun?"
„Wohl kaum! Unter den jetzigen Verhältnissen
ist solcher Umgang für mich nicht recht geeignet. Ich
darf keine Aufmerksamkeit annehmen, die ich nicht er-
widern kann."
„Aber ein Verkehr mit dem Grafen könnte Dir
nur von Nutzen sein. Solche Verbindungen sind später-
ost sehr wertvoll. Und dann," fügte sie nach einem
kurzen Zaudern entschlossen hinzu, „wäre es doch wohl
auch endlich an der Zeit, ein klein wenig Abwechslung
in unser Trappistenleben zu bringen. Wenn Arkadi
Apraxin ein so charmanter Gesellschafter ist, wie Du
sagst, warum bist Du noch nicht auf den Gedanken
verfallen, ihn bei uns einzuführen?"
„Bei uns?" fragte Edith, die bis dahin ganz still
gewesen war, erschrocken. „Aber, liebste Margot, wir
sind doch wahrhaftig nicht darauf eingerichtet, Gäste
zu empfangen."
„Er wird nicht der Bewirtung wegen kommen —
wenn er überhaupt kommt," erwiderte die Baronesse
ziemlich kurz. „Und wenn wir uns ewig unserer
Armut schämen wollen, werden wir auch ewig dazu
verdammt sein, dieses schreckliche Dasein langsamer
Selbstvernichtung zu führen. Ich begreife nicht, Viktor,
daß Du Dich noch niemals aus Deine Pflicht besonnen
hast, uns vor gänzlicher Vereinsamung zu bewahren."
Der Regierungsassessor wurde durch diesen Vorwurf
aufs höchste überrascht.
„Aber, mein Gott, ich hatte ja keine Ahnung, daß
euch etwas daran gelegen sei, Menschen zu sehen. Bis-
her Pflegtest Du Dich über diesen Punkt in ganz an-
derem Sinne zu äußern, liebste Margot."
„So habe ich eben meine Ansichten geändert. Aber-
natürlich — wenn es euch nicht erwünscht ist —"
„Warum sollen wir einen jungen Mann, den uns
Viktor zuführt, uicht gern empfangen?" mischte sich die
Baronin ein. „Ich gestehe, daß dieser Graf Apraxin
auch auf mich einen recht günstigen Eindruck machte."
„Nun meinetwegen! Ich will thun, was ich kann!"
rief Viktor, ohne aus seinem Erstaunen über die un-
erwartete Zumutung ein Hehl zu machen. „Aber mit
Gewalt werde ich ihn freilich nicht in Fräulein von
Plothows Pensionat schleppen können."
Sie hatten die erste der vielen kleinen Stationen
erreicht, und der Umstand, daß ein Passagier zu ihnen
ins Coupe stieg, verhinderte sie, das Gespräch fortzu-
sühren. Wolfgang Normann hatte sich daran mit
keinem einzigen Wort beteiligt; aber auch aus seinem
Gesicht hatte sich deutlich genug das Befremden ge-
spiegelt, mit welchem Margots Aeußerung ihn erfüllte.
Er suchte in ihren Zügen zu lesen, und es beunruhigte
ihn, daß er darin nichts wiederzufinden vermochte von
alledem, was ihn vorhin am Gestade des blauen Havel-
sees so namenlos besecligt hatte. Er zweifelte gar
nicht, daß sie jetzt nur eine Komödie spielte, um im
Gedächtnis der anderen die Erinnerung an ihren
langen Spaziergang zu zweien so rasch als möglich
111
zu verwischen und um jeden etwa geweckten Argwohn
im Keime zu ersticken. Aber in der täuschenden Natür-
lichkeit der Komödie war etwas, das ihn trotzdem be-
ängstigte und verstimmte. Er war nicht eifersüchtig
aus den Grasen Arkadi Apraxin und er grollte den-
noch dem Zufall, der ihnen den eleganten Kavalier
mit den Sammetaugen und dem musikalischen Wohl-
laut der Stimme gerade au diesem glücklichen Abend
in den Weg führen mußte.
Als er sich nach der Ankunft in Berlin von den
anderen verabschiedete, hoffte er vergebens auf eines
jener kleinen verstohlenen Zeichen des Einverständnisses,
in denen junge Liebe sonst so erfinderisch ist. Nicht
kühler und nicht freundlicher als sonst sagte Margot
ihm Gutenacht, und während sein Blick voll innigen
Flehens den ihrigen suchte, sah sie sich aufmerksam
nach einer Droschke um, als wäre sie nur noch von
dem Verlangen nach rascher Heimkehr erfüllt.
Lange nachher erst erinnerte sich der, Ingenieur
an den rührenden Ausdruck einer tiefen Schwermut,
den er bei diesem frostigen Abschied in den schönen
braunen Augen Ediths gesehen.
Vierzehntes Kapitel.
Durch irgend ein Geräusch auf der Straße geweckt,
fuhr Viktor mit wüstem, schmerzendem Kopfe aus blei-
schwerem Schlummer empor. Das fahle Licht eines
trüben Herbstmorgens fiel durch die herabgelasseneu
Vorhänge in das Zimmer und machte für die brennen-
den Augen des Assessors die erlogene, schäbige Eleganz
der aus zwanzig Trödlerläden zusammengesuchten
Einrichtung noch widerwärtiger als sonst. Er stöhnte
tief auf uud griff sich mit beiden Händen an die
fieberisch pochenden Schläfen.
„Aus!" sagte er laut vor sich hin. „Alles aus!
Hoffnungslos verloren!"
Wohl eine Viertelstunde lang saß er aufrecht auf
dem Lager und starrte mit leerem, gläsernem Blick
unverwandt auf den alten stockfleckigen Kupferstich an
der Wand, der ihm vom ersten Tage an so unsäglich
zuwider gewesen war.
Dann klopfte feine Wirtin und rief durch die ge-
schlossene Thür, daß sie den Kaffee schon zweimal,
wieder hinausgetragen habe. Wann der Herr Ne-
gierungsafsessor denn eigentlich heute fein Frühstück
haben wolle.
„Bringen Sie es nur herein!" rief er unwillig
und sprang auf. Aber ein Schwindel überkam ihn,
und er mußte sich au dem Bettpfosten festhalten, um
auf den Füßen zu bleiben. Der Anblick seines eigenen
Spiegelbildes, das ihm leichenfahl und mit dunkel
umränderten Augen aus dem schlechten, grünlichen
Glase entgegenstarrte, erfüllte ihn mit Entsetzen und
mit Abscheu gegen sich selbst. Er wandte sich ab, und
während er sich schwerfällig ankleidete, vermied er
ängstlich, noch einmal in den Spiegel zu sehen. Nie
hatte er eine so lange Zeit für seine Toilette gebraucht
als an diesem Morgen. Als er seine Taschenuhr von
dem kleinen Sammetkissen nahm, erschrak er aufs neue.
„Elf Uhr vorbei! Es ist zu spät, um noch in das
Ministerium zu gehen. Aber was habe ich da denn
auch jetzt noch zu suchen!"
Er ging mit müden Schritten in das Wohnzimmer,
das ihm unter der hochtönenden Bezeichnung eines
Salons vermietet worden war, und stellte sich an das
Fenster, offenbar ohne zu wissen, was er nun weiter
beginnen solle. Denn von dem gedeckten Frühstücks-
tische hatte er sich sogleich wieder mit einer Miene
des Ekels abgewendet. Er sah dem geschäftigen Treiben
aus der Straße zu, wie wenn er das alles zum ersten-
mal in seinem Leben beobachtete, und dabei murmelte
er von Zeit zu Zeit — wohl ohne sich dessen bewußt
zu werden — abgerissene Worte voll Bitterkeit und
Selbstverachtung vor sich hin.
Dann schien ihn plötzlich ein neuer Gedanke zu
durchzucken und er raffte sich auf.
„Es muß etwas geschehen!" rief er, gleichsam zu
seiner eigenen Ermutigung, fast überlaut. „Worauf
warte ich denn eigentlich noch? Es muß doch aus
der Stelle etwas geschehen!"
Er beendete seinen Straßenanzug und ging aus.
An der nächsten Ecke zwar blieb er eine Weile zaudernd
stehen; dann aber entschied er sich für eine bestimmte
Richtung und betrat endlich ein unansehnliches, altes
Haus in der Nähe des Oranienburger Thores.
„Martin Janeler, Rentner — zu sprechen von zehn
bis zwei" stand aus einem Porzellanschild über der
Glocke, die er mit energischem Ruck in Bewegung setzte.
Ein unsauberes Dienstmädchen that ihm auf und führte
ihn nach einem prüfenden Blick auf feine äußere Er-
scheinung, ohne ihn erst um feinen Namen zu befragen,
in das Zimmer ihres Herrn.
Herr Martin Janeler, ein Graukops von behäbigem,
gutmütigem Aussehen, las den Lokalanzeiger und
rauchte dabei aus einer langen Pfeife schlechten Tabak
von widerlich süßem Geruch. Ueber seine Brille hin-
weg, die ihm fast auf der Nasenspitze balancirte, sah
er nach dem Eintretenden hinüber und faltete dann.