ergreifend, „ich zeige euch den Weg. Regina mag
eiligst zu Herrn Vvn Heyden zurückkehren und unter
dessen Schutze das weitere abwarteu. Rose bleibt hier-
bei der Mutter, sie muß den ersten Anprall anshalten.
Sei tapfer, Mädchen, und bete für unsere Rettung."
Julia widersprach nicht mehr. Willig folgte sie
der Voranschreitenden. Elfriede erschien wie ausge-
wechselt; das sonst so schüchterne Kind zeigte eine über-
raschende Ruhe und Entschlossenheit. Durch die Hinter-
thür betrat man das kleine, zu Mutter Gertruds Hause
gehörende Gärtchen.
„Hier müssen wir hinüber," flüsterte Elsriede, Vor-
einer etwas bröckligen Mauer stehen bleibend, die das
Grundstück von dem daneben liegenden, bis zur Stadt-
mauer gehenden Baumgarten des hohen Gerichtshoses
trennte.
Mit überraschender Gewandtheit erkletterte Elsriede
das Geröll. Hatte sie das doch ost gethan in den Tagen
der Kindheit, wenn sie mit Rose in diesem Garten, der
für die Kinder des Bürgermeisters und der Senatoren
als Tummelplatz diente, gespielt, und die Uebermütigen
die Lust angewandelt hatte, Mutter Gertrud einen Be-
such abzustatten. Manch ein Kleid hatte sie dabei an
den Sträuchern zerrissen, die von beiden Seiten an
der Mauer emporwucherten, und von der Mutter des-
halb Schelte bekommen. Aber welch Glück heute für-
ste, daß sie diese Stelle so genau kannte, sie im Dunkeln
selbst zu finden vermochte, wie auch jeden Weg in dem
weitläufigen Baumgarten!
„Wirst Du es vermögen, Favrat?" fragte Julia
bange.
„Sorge Dich nicht um mich, meine Julia, Du siehst,
das Bewußtsein der Gefahr gibt mir meine entschwun-
denen Kräfte zurück."
Und wirklich, es ging besser, als er geahnt hatte.
„Nur immer mir nach!" ries Elsriede von neuem,
Julias Hand fassend.
Schweigend führte sie sie weiter durch das Gewirr
von Bäumen und Sträuchern. Der Sturm sauste über
ihren Häuptern durch die Kronen der alten Linden,
der Regen peitschte ihnen ins Gesicht — hier aber hals
kein Zaudern, galt es doch das Leben.
Endlich war man am Ziele angelangt. Elsriede
stand vor einer kleinen, tief in die alte gewaltige Stadt-
mauer eingelassenen Thür. Mit zitternder Hand ent-
nahm sie einen alten rostigen Schlüssel der Mantel-
tasche und steckte ihn ins Schloß. Einst hatte dieses
Psörtchen den Bewohnern Ulms in den Zeiten der Re-
ligionskriege und vielfachen Belagerungen dazu gedient,
heimlich aus dem Flusse herbeigeschaffte Nahrungsmittel
in die Stadt zu schmuggeln. Seitdem diente es im
Sommer nur noch den Mägden der Ratsherreu, die
hier aus dem weiten Rasenplatz ihre Wäsche bleichen
dursten, um aus dem nicht weit von der Mauer ent-
fernten Fluß das Wasser zum Gießen herbeizuholen.
So hatte denn auch jeder der Herren der Stadt einen
Schlüssel zu diesem Psörtchen. Wie eine Eingebung
war es über Elsriede gekommen, nachdem Vater und
Bruder sie am Nachmittage verlassen hatten, daß hier-
nach ein Weg zur Rettung mögtich sei. Es gelang
ihr auch, unbemerkt den ihr wohlbekwmten Schlüssel
von dem Schlüsselbrette in der Vorratsstube zu nehmen.
Rose war mit einem Briese an Anna von Heyden ge-
schickt worden, die treue Freundin herbei zu rufen.
Mit ihr, die dem Plane begeistert znstimmte, wurden
alle Verabredungen getroffen. Sie übernahm es auch,
durch ihren Vater Herrn von Treskow oder Seelen,
wie auch Elsriede jetzt wußte, daß sein wahrer Name
sei, benachrichtigen zu lassen. Er sollte dafür Sorge
tragen, daß die Flüchtlinge, wenn es Elsriede gelungen
war, sie durch die Pforte aus der Stadt zu laßen,
von dort weiter befördert und über die nicht zu ferne
österreichische Grenze gebracht würden.
So weit war alles gut gelungen. Als aber Elsriede
abends, nachdem sie den Eltern schon gute Nacht gesagt,
sich mit der treuen Rose heimlich aus der Hintertreppe
ans dem Hause geschlichen, hatte sie beim Passiren des
Marktes plötzlich Schritte hinter sich vernommen und
Stimmen. In der einen hellklingenden, harten, erkannte
sie mit Schrecken die des Bruders, der mit dem juugeu
Herrn von Waldmeyer dem Wachtgebünde zuging.
„Ich habe heut noch eine Exkursion vor und hole
mir einige Leute für den Fall, daß es mir gelingen
sollte, das Wild zu stellen."
„Wo vermuten Sie es denn jetzt wieder, Herr-
Dietrich?" spottete der andere. „Ihre Mühe wird
abermals eine vergebliche sein. Die Sie suchen, sind
längst über alle Berge."
„Das denken Sie, weil Sie es vielleicht ein wenig
wünschen," klang es kalt und höhnend zurück. „Sie
hatteu stets ein tacbw für jenen preußischen Werbe-
osfizier. Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, die
Ftüchtlinge sind uns viel näher, als wir bisher ahnten."
Elsriede hatte nur Roses Arm fester gedrückt, und
wie vom Sturmwind getrieben waren die beiden Mäd-
chen die Gasse hinunter zum Flusse geflogen. Gott
sei gedankt, daß sie noch zeitig genug angelangt waren,
um die Flucht möglich zu machen.
Illnstrirte Welt.
Lange widerstand das alte, rostige, wenig benützte
Thürschloß. Erst den vereinten Kräften wurde es mög-
lich, den Schlüssel umzudrehen. Und nun stemmten
sich alle gegen die Thür - es war geglückt sie flog
auf, die Freiheit winkte.
Doch was war das? Vom Garten Mutter Ger-
truds her drang Stimmengewirr zu ihnen.
„Eilt euch, eilt!" ries Elsriede angstvoll. „Sie sind
da, die Versolger, sie haben unsere Spur!"
„Und Du, Elsriede, Du? Was wird mit Dir?"
„Sorge Dich nicht um mich, Julia. Ich werde un-
gefährdet wieder nach Hause gelangen."
„So habe Dank, tausend Dank, teure Schwester!"
„Gott sei mit euch!"
Die Thür flog hinter den Fliehenden zu. Elsriede
suchte mit hastender Eile den Schlüssel wieder umzu-
drehen ; aber vergeblich. Ihre zarte Kraft reichte nicht
aus, das Schloß blieb offen. Eine unsägliche Angst
erfaßte sie. Schon sah sie den Schein von Laternen
jenseits der Maner ausleuchten, also auch der Ueber-
gaug war bereits gesuudeu. Zu ihr tönte des Bruders
Stimme — uud noch alle Mühe vergeblich — der
Schlüssel drehte sich nicht. Verzweifelt ließ sie die
Hände sinken. Was blieb ihr anderes übrig, als ihre
Person einzusetzen und den Versuch zu wagen, die
Versolger anszuhalten, um für die Fliehenden Zeit zu
gewinnen!
Hoch gehobenen Hauptes stand sie schützend vor der
Pforte, stolz und fest sah sie der Ankunft ihres Bruders
entgegen.
Das schwache Mädchen war zur Heldin geworden.
Als hätte sie das leichthin gesprochene Wort Favrats
gehört, daß er ihr keinen Opfermut zutraue, widerlegte
sie es unbewußt jetzt durch die That. Und ihr Opfer-
mut erwies sich als ein höherer denn selbst der Julias;
er war ein selbstlos entsagungsvoller, der nichts für
sich begehrt, sondern nur für das Glück anderer kämpft,
das Glück, das ihr von dem Schicksal versagt war.
Zum Heil für die Bedrohten waren weder Dietrich
noch seine Soldaten so genau mit dem Baumgarten
bekannt, wie Elsriede. Dazu machten Wind und Regen
den Lichtschein der Laternen trüber. Dichtes Gestrüpp
wuchs an der Mauer entlaug. Mau suchte lange ver-
geblich nach der Pforte, endlich wurde sie aber doch ge-
sundem Und nun standen sich Bruder und Schwester
beim düstern Laternenschein plötzlich gegenüber.
„Du, also — wirklich Du, des Bürgermeisters
Tochter," knirschte Dietrich, „Du bist die Verräterin
an der Sache Ulms? Glaubtest mich täuschen zu
können durch Deiner Jungfer gewandte Zunge? Aber
ich sah's mit einem Blick, wer da gehaust hat! Und
nun fort da, mach Platz!"
Elsriede rührte sich nicht, nur mit der Hand machte
sie eine abwehrende Bewegung. Dietrich stieg das Blut
heiß zu Kopse, seine Lippen begannen zu zittern, bei
ihm das Zeichen maßlosester "Heftigkeit; die Augen
funkelten im Dämmerschein der hochgehaltenen Laternen
ans die aufsässige Schwester hernieder. Dicht an sie
herantretend, zischte er drohend:
„Willst Du den Leuten hier das Beispiel geben,
wie die Kinder des Bürgermeisters sich feindlich gegen-
über stehen? Lasse den Weg frei, noch einmal gebiete
ich es Dir in Gutem."
„Und ich antworte Dir, daß ich freiwillig diesen
Platz nicht verlassen werde."
Da übermannte ihn die Wut. Mit rascheln Griffe
ihren Arm fassend, schleuderte er sie zur Seite, daß
sie mit einem leisen Klagelaut zusammensank.
„Du hast es nicht anders gewollt."
Damit stieß er die Pforte aus und stürmte, ohne
auch nur noch einen Blick ans die Schwester zu Wersen,
hinaus ins Dunkel der Nacht.
XlX.
Seelen hatte nicht ohne Ueberraschung am Nach-
mittage dieses Tages durch den Residenten die Bot-
schaft Elsriedens empfangen. Dennoch traf sie ihn nicht
unvorbereitet. Seit lange schon war aus Nürnberg
ein eigens für ihn angesertigter geschlossener großer
Wagen zur Weiterbeförderung für seine Dienerschaft
und sein umfangreiches Gepäck angelangt. Sofort gab
er Befehl, denselben fertig zu stellen, nm kommenden
Morgen Ulm zu verlassen und, im Fall er nicht selbst
zurückkehren und Gegenbefehl geben sollte, sich in dem
schon aus österreichischem Gebiet liegenden kleinen Orte
Talsingen an der Donau mit ihm zu vereinigen. Ec-
selbst nahm nur seinen getreuen Fritz zu dem bevor-
stehenden Wagnis mit. Eine Sänfte für die Gräfin
Julia war schon in jener verhängnisvollen Nacht, als
Favrat den kühnen Fluchtversuch gewagt, im nahen
Talsingen bereit gehalten worden und befand sich noch
daselbst. Jetzt konnte sie dem Verwundeten zur Weiter-
beförderung dienen.
Es war durchaus nicht ausfällig, daß er abends
mit seinem Jäger zu Pferde das Thor passirte. Solche
Ausritte gehörten seit lange zu seiner Gewohnheit, und
er war oftmals in Biberich oder Memmingen zur Nacht
geblieben, um erst am folgenden Tage heimzukehren.
199
Freilich war den Wachen am Thore besohlen worden,
von jedem Passirenden die Persönlichkeit sestzustellen,
jeden Wagen zu untersuchen, ob in demselben nicht
etwa der entwichene Sträfling verborgen sei. Den
Herrn von Treskow aber, der in der Meinung der
Lente immer noch für einen verkappten Prinzen galt,
einer Meinung, welcher die Oberhäupter der Stadt ans
Eitelkeit nicht widersprochen hatten, zu beargwöhnen,
siel niemand ein. Eine Weile ritt Seelen dann, wie
gewöhnlich, die Landstraße hinaus, bis er im Walde
den spähenden Augen der Wächter entrückt war.
Dann bog er rechts in einen schmalen Waldweg ein,
der ihn, nicht fern von der Grenze Ulms, nach dem
Häuschen des Kaiserlich Königtichen Forstwarts führte,
den er durch Geld uud gute Worte zu seinem Beistände
gewonnen hatte. Von dem schlichten Manne, der sein
Pfeifchen im Munde in die Thür trat, erfuhr er denn
auch, daß der Stadtlieutenant noch in der verhängnis-
vollen Nacht des gescheiterten Fluchtversuches aus der
Donau wohlbehalten dort eingetrosfen und am andern
Tage aus einem Pferde, das er aus einem nahen Guts-
hose erstanden, seine Reise weiter fortgesetzt habe. Aus
Seelens Veranlassung schickte er sofort zwei seiner Jäger-
burschen nach Talfingen, um die Sänfte herbeizuholen
und im Walde bis dicht an die Ulmer Grenze zu bringen,
wo er den Ort, eine von Kiefern umstandene Lichtung,
genau angnb. Er selbst verweilte bis zum Dunkel-
werden mit Fritz in dem sauberen Häuschen uud ließ
sich vvn der schmucken Hausfrau eine warme Suppe
bereiten, die bei dem kalten, regnerischen Wetter trefflich
mundete. Dabei kam denn auch das Gespräch aus die
politische Lage, und wie es in den Kaiserlichen Landen
freudig begrüßt worden, als die Kaiserin mit dem König
von Preußen Frieden geschlossen. Freilich, daß ihnen
das schöne Schlesien genommen, sei eine böse Sache,
meinte der Forstwart. Aber der König von Preußen
habe sich doch als ganzer Mann und Held gezeigt, und
wenn ihm ein braver Oesterreicher, der seinen Kaiser
und die große Maria Theresia, dieses Vorbild aller
Tugenden einer Frau uud Herrscherin, von ganzer
Seele liebe, auch sein Lebenlang darob zürnen müsse,
Bewunderung könne er ihm doch nicht versagen.
„Und," fuhr er schmunzelnd fort, „daß man dieser!
Protzigen Ulmer Reichsbürgern den Schabernack gespielt,
und ihnen das Vergnügen, einen preußischen Offizier
hängen zu können, vereitelt hat, das freut jeden hier
in der Umgebung Ulms, und Ihr, Herr, könnt ans
unser aller Beistand rechnen!"
Seelen lachte. „Wenn sie den Armen nur uicht an-
geschvsseu Hütten, wie ein flüchtiges Wild," sagte ec-
dann, „das ist's, was mir Sorge macht."
„O, das wollen wir schon machen," ries der Forst-
wart, „ich hänge mir die Flinte nm und begleite Euch,
Herr. Im Verein mit Eurem Jäger werden wir ihn
schon bis zur Sänfte bringen, wenn ihm selbst die
Kraft zum Geheu fehlen sollte."
„Leider haben wir noch ein Frauenzimmer dabei,
was auch die Flucht behindern wird."
„Ein Frauenzimmer?" stieß der Forstwart ans,
einige Züge aus seiner Pfeife nehmend. „Schockschwere-
not, Gott verzeihe mir die Sünde, daß aber der Unter-
rock - meine Kaiserin nehme ich natürlich mit allem
Respekt aus -- heute bei allem dabei sein und dem
Manne ins Handwerk pfuschen muß, das ist eine ganz
verfluchte Neuerung. Früher faß die Hausfrau beim
Spinnrocken, pflegte ihren Mann, erzog ihre Kinder
und kümmerte sich sonst um die Welt nicht. Jetzt bei
den Franzen, wer regiert da? — doch nicht des aller-
christlichsten Königs Majestät? Nein, eine schöne Ma-
dame, die sein Herz und Ohr gewonnen. Und nun
gar bei den Russen! Da hat sich das Frauenzimmer-
regiment festgesetzt, und schwankt bald nach dieser, bald
nach jener Seite. Der Teufel trau' den Weibern
meine allergnädigste Kaiserin und Königin Maria
Theresia ehrfurchtsvollst ausgenommen. Gott segne Ihre
Majestät, sie ist eine wahre Mutter des Volkes, aber
jene? - Also ein Frauenzimmer ist bei dem preußi-
schen Werbeosfizier? Na denn, Herr, muß ich Euch
sagen, daß ich alles fürchte, besonders aber, wenn es,
cvie vorauszusetzen, ein verliebtes Frauenzimmer ist.
Die haben nie ihre Sinne recht zusammen und gefähr-
den jedes Unternehmen."
„Nun, diesmal dürste Er doch unrecht haben mit
Seinen Anschuldigungen, Forstwart," widersprach
Seelen. „Dem Frauenzimmer, das den Herrn von
Favrat begleitet, verdankt er vor allen anderen seine
Befreiung," und er erzählte mit kurzen Worten, was
Julia für die Rettung des Geliebten gethan hatte.
„Das ändert die Sache freilich," nickte nun der
Forstwart. „Was die gewagt hat, ist aller Ehren wert.
Indessen besser wür's immerhin, sie wär' heut nicht mit
dabei. Im Falle der Verfolgung wird es schwieriger
sein, zweien Personen, die nicht gut aus den Beinen
sind, statt einer über die Grenze zu Helsen."
„Das ist nun einmal nicht zu ändern. Im Notfall
nehme ich die Fortschassung der Dame aus mich. Er,
Forstwart, und der Fritz sorgt für den Verwundeten."
(Fortsetzung folgt )
eiligst zu Herrn Vvn Heyden zurückkehren und unter
dessen Schutze das weitere abwarteu. Rose bleibt hier-
bei der Mutter, sie muß den ersten Anprall anshalten.
Sei tapfer, Mädchen, und bete für unsere Rettung."
Julia widersprach nicht mehr. Willig folgte sie
der Voranschreitenden. Elfriede erschien wie ausge-
wechselt; das sonst so schüchterne Kind zeigte eine über-
raschende Ruhe und Entschlossenheit. Durch die Hinter-
thür betrat man das kleine, zu Mutter Gertruds Hause
gehörende Gärtchen.
„Hier müssen wir hinüber," flüsterte Elsriede, Vor-
einer etwas bröckligen Mauer stehen bleibend, die das
Grundstück von dem daneben liegenden, bis zur Stadt-
mauer gehenden Baumgarten des hohen Gerichtshoses
trennte.
Mit überraschender Gewandtheit erkletterte Elsriede
das Geröll. Hatte sie das doch ost gethan in den Tagen
der Kindheit, wenn sie mit Rose in diesem Garten, der
für die Kinder des Bürgermeisters und der Senatoren
als Tummelplatz diente, gespielt, und die Uebermütigen
die Lust angewandelt hatte, Mutter Gertrud einen Be-
such abzustatten. Manch ein Kleid hatte sie dabei an
den Sträuchern zerrissen, die von beiden Seiten an
der Mauer emporwucherten, und von der Mutter des-
halb Schelte bekommen. Aber welch Glück heute für-
ste, daß sie diese Stelle so genau kannte, sie im Dunkeln
selbst zu finden vermochte, wie auch jeden Weg in dem
weitläufigen Baumgarten!
„Wirst Du es vermögen, Favrat?" fragte Julia
bange.
„Sorge Dich nicht um mich, meine Julia, Du siehst,
das Bewußtsein der Gefahr gibt mir meine entschwun-
denen Kräfte zurück."
Und wirklich, es ging besser, als er geahnt hatte.
„Nur immer mir nach!" ries Elsriede von neuem,
Julias Hand fassend.
Schweigend führte sie sie weiter durch das Gewirr
von Bäumen und Sträuchern. Der Sturm sauste über
ihren Häuptern durch die Kronen der alten Linden,
der Regen peitschte ihnen ins Gesicht — hier aber hals
kein Zaudern, galt es doch das Leben.
Endlich war man am Ziele angelangt. Elsriede
stand vor einer kleinen, tief in die alte gewaltige Stadt-
mauer eingelassenen Thür. Mit zitternder Hand ent-
nahm sie einen alten rostigen Schlüssel der Mantel-
tasche und steckte ihn ins Schloß. Einst hatte dieses
Psörtchen den Bewohnern Ulms in den Zeiten der Re-
ligionskriege und vielfachen Belagerungen dazu gedient,
heimlich aus dem Flusse herbeigeschaffte Nahrungsmittel
in die Stadt zu schmuggeln. Seitdem diente es im
Sommer nur noch den Mägden der Ratsherreu, die
hier aus dem weiten Rasenplatz ihre Wäsche bleichen
dursten, um aus dem nicht weit von der Mauer ent-
fernten Fluß das Wasser zum Gießen herbeizuholen.
So hatte denn auch jeder der Herren der Stadt einen
Schlüssel zu diesem Psörtchen. Wie eine Eingebung
war es über Elsriede gekommen, nachdem Vater und
Bruder sie am Nachmittage verlassen hatten, daß hier-
nach ein Weg zur Rettung mögtich sei. Es gelang
ihr auch, unbemerkt den ihr wohlbekwmten Schlüssel
von dem Schlüsselbrette in der Vorratsstube zu nehmen.
Rose war mit einem Briese an Anna von Heyden ge-
schickt worden, die treue Freundin herbei zu rufen.
Mit ihr, die dem Plane begeistert znstimmte, wurden
alle Verabredungen getroffen. Sie übernahm es auch,
durch ihren Vater Herrn von Treskow oder Seelen,
wie auch Elsriede jetzt wußte, daß sein wahrer Name
sei, benachrichtigen zu lassen. Er sollte dafür Sorge
tragen, daß die Flüchtlinge, wenn es Elsriede gelungen
war, sie durch die Pforte aus der Stadt zu laßen,
von dort weiter befördert und über die nicht zu ferne
österreichische Grenze gebracht würden.
So weit war alles gut gelungen. Als aber Elsriede
abends, nachdem sie den Eltern schon gute Nacht gesagt,
sich mit der treuen Rose heimlich aus der Hintertreppe
ans dem Hause geschlichen, hatte sie beim Passiren des
Marktes plötzlich Schritte hinter sich vernommen und
Stimmen. In der einen hellklingenden, harten, erkannte
sie mit Schrecken die des Bruders, der mit dem juugeu
Herrn von Waldmeyer dem Wachtgebünde zuging.
„Ich habe heut noch eine Exkursion vor und hole
mir einige Leute für den Fall, daß es mir gelingen
sollte, das Wild zu stellen."
„Wo vermuten Sie es denn jetzt wieder, Herr-
Dietrich?" spottete der andere. „Ihre Mühe wird
abermals eine vergebliche sein. Die Sie suchen, sind
längst über alle Berge."
„Das denken Sie, weil Sie es vielleicht ein wenig
wünschen," klang es kalt und höhnend zurück. „Sie
hatteu stets ein tacbw für jenen preußischen Werbe-
osfizier. Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, die
Ftüchtlinge sind uns viel näher, als wir bisher ahnten."
Elsriede hatte nur Roses Arm fester gedrückt, und
wie vom Sturmwind getrieben waren die beiden Mäd-
chen die Gasse hinunter zum Flusse geflogen. Gott
sei gedankt, daß sie noch zeitig genug angelangt waren,
um die Flucht möglich zu machen.
Illnstrirte Welt.
Lange widerstand das alte, rostige, wenig benützte
Thürschloß. Erst den vereinten Kräften wurde es mög-
lich, den Schlüssel umzudrehen. Und nun stemmten
sich alle gegen die Thür - es war geglückt sie flog
auf, die Freiheit winkte.
Doch was war das? Vom Garten Mutter Ger-
truds her drang Stimmengewirr zu ihnen.
„Eilt euch, eilt!" ries Elsriede angstvoll. „Sie sind
da, die Versolger, sie haben unsere Spur!"
„Und Du, Elsriede, Du? Was wird mit Dir?"
„Sorge Dich nicht um mich, Julia. Ich werde un-
gefährdet wieder nach Hause gelangen."
„So habe Dank, tausend Dank, teure Schwester!"
„Gott sei mit euch!"
Die Thür flog hinter den Fliehenden zu. Elsriede
suchte mit hastender Eile den Schlüssel wieder umzu-
drehen ; aber vergeblich. Ihre zarte Kraft reichte nicht
aus, das Schloß blieb offen. Eine unsägliche Angst
erfaßte sie. Schon sah sie den Schein von Laternen
jenseits der Maner ausleuchten, also auch der Ueber-
gaug war bereits gesuudeu. Zu ihr tönte des Bruders
Stimme — uud noch alle Mühe vergeblich — der
Schlüssel drehte sich nicht. Verzweifelt ließ sie die
Hände sinken. Was blieb ihr anderes übrig, als ihre
Person einzusetzen und den Versuch zu wagen, die
Versolger anszuhalten, um für die Fliehenden Zeit zu
gewinnen!
Hoch gehobenen Hauptes stand sie schützend vor der
Pforte, stolz und fest sah sie der Ankunft ihres Bruders
entgegen.
Das schwache Mädchen war zur Heldin geworden.
Als hätte sie das leichthin gesprochene Wort Favrats
gehört, daß er ihr keinen Opfermut zutraue, widerlegte
sie es unbewußt jetzt durch die That. Und ihr Opfer-
mut erwies sich als ein höherer denn selbst der Julias;
er war ein selbstlos entsagungsvoller, der nichts für
sich begehrt, sondern nur für das Glück anderer kämpft,
das Glück, das ihr von dem Schicksal versagt war.
Zum Heil für die Bedrohten waren weder Dietrich
noch seine Soldaten so genau mit dem Baumgarten
bekannt, wie Elsriede. Dazu machten Wind und Regen
den Lichtschein der Laternen trüber. Dichtes Gestrüpp
wuchs an der Mauer entlaug. Mau suchte lange ver-
geblich nach der Pforte, endlich wurde sie aber doch ge-
sundem Und nun standen sich Bruder und Schwester
beim düstern Laternenschein plötzlich gegenüber.
„Du, also — wirklich Du, des Bürgermeisters
Tochter," knirschte Dietrich, „Du bist die Verräterin
an der Sache Ulms? Glaubtest mich täuschen zu
können durch Deiner Jungfer gewandte Zunge? Aber
ich sah's mit einem Blick, wer da gehaust hat! Und
nun fort da, mach Platz!"
Elsriede rührte sich nicht, nur mit der Hand machte
sie eine abwehrende Bewegung. Dietrich stieg das Blut
heiß zu Kopse, seine Lippen begannen zu zittern, bei
ihm das Zeichen maßlosester "Heftigkeit; die Augen
funkelten im Dämmerschein der hochgehaltenen Laternen
ans die aufsässige Schwester hernieder. Dicht an sie
herantretend, zischte er drohend:
„Willst Du den Leuten hier das Beispiel geben,
wie die Kinder des Bürgermeisters sich feindlich gegen-
über stehen? Lasse den Weg frei, noch einmal gebiete
ich es Dir in Gutem."
„Und ich antworte Dir, daß ich freiwillig diesen
Platz nicht verlassen werde."
Da übermannte ihn die Wut. Mit rascheln Griffe
ihren Arm fassend, schleuderte er sie zur Seite, daß
sie mit einem leisen Klagelaut zusammensank.
„Du hast es nicht anders gewollt."
Damit stieß er die Pforte aus und stürmte, ohne
auch nur noch einen Blick ans die Schwester zu Wersen,
hinaus ins Dunkel der Nacht.
XlX.
Seelen hatte nicht ohne Ueberraschung am Nach-
mittage dieses Tages durch den Residenten die Bot-
schaft Elsriedens empfangen. Dennoch traf sie ihn nicht
unvorbereitet. Seit lange schon war aus Nürnberg
ein eigens für ihn angesertigter geschlossener großer
Wagen zur Weiterbeförderung für seine Dienerschaft
und sein umfangreiches Gepäck angelangt. Sofort gab
er Befehl, denselben fertig zu stellen, nm kommenden
Morgen Ulm zu verlassen und, im Fall er nicht selbst
zurückkehren und Gegenbefehl geben sollte, sich in dem
schon aus österreichischem Gebiet liegenden kleinen Orte
Talsingen an der Donau mit ihm zu vereinigen. Ec-
selbst nahm nur seinen getreuen Fritz zu dem bevor-
stehenden Wagnis mit. Eine Sänfte für die Gräfin
Julia war schon in jener verhängnisvollen Nacht, als
Favrat den kühnen Fluchtversuch gewagt, im nahen
Talsingen bereit gehalten worden und befand sich noch
daselbst. Jetzt konnte sie dem Verwundeten zur Weiter-
beförderung dienen.
Es war durchaus nicht ausfällig, daß er abends
mit seinem Jäger zu Pferde das Thor passirte. Solche
Ausritte gehörten seit lange zu seiner Gewohnheit, und
er war oftmals in Biberich oder Memmingen zur Nacht
geblieben, um erst am folgenden Tage heimzukehren.
199
Freilich war den Wachen am Thore besohlen worden,
von jedem Passirenden die Persönlichkeit sestzustellen,
jeden Wagen zu untersuchen, ob in demselben nicht
etwa der entwichene Sträfling verborgen sei. Den
Herrn von Treskow aber, der in der Meinung der
Lente immer noch für einen verkappten Prinzen galt,
einer Meinung, welcher die Oberhäupter der Stadt ans
Eitelkeit nicht widersprochen hatten, zu beargwöhnen,
siel niemand ein. Eine Weile ritt Seelen dann, wie
gewöhnlich, die Landstraße hinaus, bis er im Walde
den spähenden Augen der Wächter entrückt war.
Dann bog er rechts in einen schmalen Waldweg ein,
der ihn, nicht fern von der Grenze Ulms, nach dem
Häuschen des Kaiserlich Königtichen Forstwarts führte,
den er durch Geld uud gute Worte zu seinem Beistände
gewonnen hatte. Von dem schlichten Manne, der sein
Pfeifchen im Munde in die Thür trat, erfuhr er denn
auch, daß der Stadtlieutenant noch in der verhängnis-
vollen Nacht des gescheiterten Fluchtversuches aus der
Donau wohlbehalten dort eingetrosfen und am andern
Tage aus einem Pferde, das er aus einem nahen Guts-
hose erstanden, seine Reise weiter fortgesetzt habe. Aus
Seelens Veranlassung schickte er sofort zwei seiner Jäger-
burschen nach Talfingen, um die Sänfte herbeizuholen
und im Walde bis dicht an die Ulmer Grenze zu bringen,
wo er den Ort, eine von Kiefern umstandene Lichtung,
genau angnb. Er selbst verweilte bis zum Dunkel-
werden mit Fritz in dem sauberen Häuschen uud ließ
sich vvn der schmucken Hausfrau eine warme Suppe
bereiten, die bei dem kalten, regnerischen Wetter trefflich
mundete. Dabei kam denn auch das Gespräch aus die
politische Lage, und wie es in den Kaiserlichen Landen
freudig begrüßt worden, als die Kaiserin mit dem König
von Preußen Frieden geschlossen. Freilich, daß ihnen
das schöne Schlesien genommen, sei eine böse Sache,
meinte der Forstwart. Aber der König von Preußen
habe sich doch als ganzer Mann und Held gezeigt, und
wenn ihm ein braver Oesterreicher, der seinen Kaiser
und die große Maria Theresia, dieses Vorbild aller
Tugenden einer Frau uud Herrscherin, von ganzer
Seele liebe, auch sein Lebenlang darob zürnen müsse,
Bewunderung könne er ihm doch nicht versagen.
„Und," fuhr er schmunzelnd fort, „daß man dieser!
Protzigen Ulmer Reichsbürgern den Schabernack gespielt,
und ihnen das Vergnügen, einen preußischen Offizier
hängen zu können, vereitelt hat, das freut jeden hier
in der Umgebung Ulms, und Ihr, Herr, könnt ans
unser aller Beistand rechnen!"
Seelen lachte. „Wenn sie den Armen nur uicht an-
geschvsseu Hütten, wie ein flüchtiges Wild," sagte ec-
dann, „das ist's, was mir Sorge macht."
„O, das wollen wir schon machen," ries der Forst-
wart, „ich hänge mir die Flinte nm und begleite Euch,
Herr. Im Verein mit Eurem Jäger werden wir ihn
schon bis zur Sänfte bringen, wenn ihm selbst die
Kraft zum Geheu fehlen sollte."
„Leider haben wir noch ein Frauenzimmer dabei,
was auch die Flucht behindern wird."
„Ein Frauenzimmer?" stieß der Forstwart ans,
einige Züge aus seiner Pfeife nehmend. „Schockschwere-
not, Gott verzeihe mir die Sünde, daß aber der Unter-
rock - meine Kaiserin nehme ich natürlich mit allem
Respekt aus -- heute bei allem dabei sein und dem
Manne ins Handwerk pfuschen muß, das ist eine ganz
verfluchte Neuerung. Früher faß die Hausfrau beim
Spinnrocken, pflegte ihren Mann, erzog ihre Kinder
und kümmerte sich sonst um die Welt nicht. Jetzt bei
den Franzen, wer regiert da? — doch nicht des aller-
christlichsten Königs Majestät? Nein, eine schöne Ma-
dame, die sein Herz und Ohr gewonnen. Und nun
gar bei den Russen! Da hat sich das Frauenzimmer-
regiment festgesetzt, und schwankt bald nach dieser, bald
nach jener Seite. Der Teufel trau' den Weibern
meine allergnädigste Kaiserin und Königin Maria
Theresia ehrfurchtsvollst ausgenommen. Gott segne Ihre
Majestät, sie ist eine wahre Mutter des Volkes, aber
jene? - Also ein Frauenzimmer ist bei dem preußi-
schen Werbeosfizier? Na denn, Herr, muß ich Euch
sagen, daß ich alles fürchte, besonders aber, wenn es,
cvie vorauszusetzen, ein verliebtes Frauenzimmer ist.
Die haben nie ihre Sinne recht zusammen und gefähr-
den jedes Unternehmen."
„Nun, diesmal dürste Er doch unrecht haben mit
Seinen Anschuldigungen, Forstwart," widersprach
Seelen. „Dem Frauenzimmer, das den Herrn von
Favrat begleitet, verdankt er vor allen anderen seine
Befreiung," und er erzählte mit kurzen Worten, was
Julia für die Rettung des Geliebten gethan hatte.
„Das ändert die Sache freilich," nickte nun der
Forstwart. „Was die gewagt hat, ist aller Ehren wert.
Indessen besser wür's immerhin, sie wär' heut nicht mit
dabei. Im Falle der Verfolgung wird es schwieriger
sein, zweien Personen, die nicht gut aus den Beinen
sind, statt einer über die Grenze zu Helsen."
„Das ist nun einmal nicht zu ändern. Im Notfall
nehme ich die Fortschassung der Dame aus mich. Er,
Forstwart, und der Fritz sorgt für den Verwundeten."
(Fortsetzung folgt )