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aber nebst einer Erläuterung an den Doktor Korne-
mann mit der Bitte, für die Sicherheit seiner Pupille
zu sorgen, da den männlichen Mitgliedern der Familie
Schindler alles zuzutrauen sei. Und Doktor Korne-
mann war auch der Rechte dazu vermöge seiner schnei-
digen Grobheit, seiner unbestechlichen Rechtlichkeit und
seines ehrenwerten Charakters. Er rückte Herrn Schind-
ler senior sofort aus die Stube, oder vielmehr ins
Comptoir und fütterte ihn mit Redensarten, die nicht
nach Honig schmeckten, dagegen allerlei unangenehme
Prozeduren in Aussicht stellten.
So sehr dies nun Herrn Schindler verdroß, der
allmälich mehr und mehr einer Geschäftskrise entgegen-
trieb, so sehr gefiel dieser Verlauf der Sache der Frau
Kohn, die sich des leisen Verdachtes nicht hatte er-
wehren können, daß ihr Großneffe durch die Autorität
des Vaters gezwungen, oder durch die Reize der „Cou-
sine" verführt, dennoch auf Abwege geraten werde,
wodurch ihr schöner Nacheplan zerfiel. Sie war daher
augenscheinlich sehr zufrieden, als der junge Herr von
den vergeblichen Versuchen erzählte, sich der Cousine
zu nähern, von dem groben Brief des älteren Streit
und dem noch gröberen Auftreten des Doktor Korne-
mann. Das eigene brutale Benehmen verschwieg er
weislich; die alte kluge Frau würde es nie gebilligt
haben; und ebenso wenig deutete er nochmal auf die
feste Absicht hin, bei dieser Gelegenheit ein kleines
Geschäft zu machen.
So standen die Angelegenheiten an jenem Morgen,
als Doktor Streit junior in seiner Stube am Schreib-
tisch saß, gebeugt über den Aktensaszikel. Es war
ein gemütliches Heim und mit einigem Luxus her-
gerichtet. An der Wand hingen zwei große Gruppen-
bilder der Corps, denen er einst angehörte in Bonn
und Berlin, darüber gekreuzte Schläger, Cereviskappen
und Bänder mit den Farben der Verbindungen; vor
ihm, an der Wand über dem Schreibtisch, die Porträts
der Eltern, von Jakob Gensler gemalt. Im Ofen
brannte ein leichtes Feuer, denn es war morgens schon
recht kühl, und neben ihm stand ein elegantes Dejeuner
aus Münchener Porzellan.
Er hatte den Kopf aus die Hand gestützt und sah
die staubigen Papiere nicht an; er dachte nur an die,
die rhm mehr als alles war in der Welt und an die
kümmerlichen Erfolge seiner Forschung im Interesse
ihres Großvaters. Schon öfter während der letzten
Wochen hatte er den alten Freund besucht und ihn
stets sehr verändert gefunden, gebeugter als sonst,
milder in Bewegung und Rede. Aber er hatte doch
endlich nach mancherlei Fragen herausbekommeu, daß
Meyer seine Strafe in dem Zucht- und Werkhause zu
Altona verbüßte. Von seinem Vater erfuhr der junge
Anwalt dann, daß jenes Institut durch königlichen
Befehl im Jahre 1841 aufgehoben, und Züchtlinge
sowohl wie sämtliche Akten nach Glückstadt abgegeben
worden waren. Auch dahin hatte sich Willy Streit
gewendet, aber zu seinem großen Schreck erfahren, daß
die Akten bis zum Jahre 1812 verschwunden, wahr-
scheinlich zum Einstampseu verkauft seien. Mit einem
Worte, sie waren nicht mehr vorhanden.
Jetzt existirten also nur noch zwei Menschen, die
das Geheimnis kannten, der alte Meyer und Fräulein
Dobers; beide aber verweigerten jede Auskunft. Was
nun thun?
Darüber grübelte er und dann gedachte er aber-
mals der Frechheit dieses Schindler, der offenbar seine
Sache aus nichts gesetzt hatte, entschlossen zu jeder
Thal, um das Mädchen zu gewinnen. Und er nahm
sich vor, noch einmal in seinm Vater zu dringen, um
- ja, um was? Mit Gewalt war weder nach der
einen noch nach «der andern Richtung etwas auszurichten,
und warten? Das Warten war doch eine zu schwere
Ausgabe für seiu stürmisches Herz.
Da klopfte es an der Stubenthür und der kleine
Schreiber meldete Herrn Schindler junior, der ersterem
auch aus dem Fuße folgte. Der junge Herr that sehr
sorglos, war aber von einer ungewohnten Bescheiden-
heit und Höflichkeit. Er steckte in einem hoch modernen
Herbstanzuge, trug den seinen Cylinder in der linken
Hand und ebenso ein zierliches Stöckchen mit goldenem
Knopß und indem er sich halb scherzhaft, halb ver-
traulich verbeugte, reichte er seinen! einstigen Schul-
kameraden die Hand. „Wie geht es Ihnen, lieber
Streit, was macht die Praxis?" — Das vertrauliche
„Du" vermied er; schon in Berlin war ihm in dieser
Richtung eine sehr verständliche Abwehr zu teil ge-
worden. Ueberdies — er wollte ja einen Vertrag
schließen, gegründet ans gegenseitiges Vertrauen, mußte
also diplomatisch verfahren.
Doktor Streit hatte sich erhüben und betrachtete
sein vw-a-vw mit ungeheucheltem Erstaunen. „Was
bringen Sie?" fragte er kurz, ohne die dargebotene
Hand zu bemerken, ohne den seinen Herrn zum Sitzen
zu nötigen.
„Zunächst mich selbst, mein Bester," lautete die
Antwort, „und dann — hm - ich möchte einige
Worte mit Ihnen über meine Cousine reden, das
heißt, ich komme zugleich als Bevollmächtigter meines

Illnstrirte Welt.

Vaters, des Onkels der kleinen Ellen und ihres ein-
zigen Verwandten, denn der alte Meyer ist kindisch
geworden und wohl uä uetu zu legen."
„Da haben Sie sich an den Unrichtigen gewendet,"
klang es in einem nicht sehr freundlichen Tone; „der
Vormund der jungen Dame ist Doktor KorueMann."
„Weiß ich, Herr Doktor, weiß ich!" scholl es, nicht
minder kühl. „Aber ich komme zu Ihnen behufs einer
mehr vertraulichen Mitteilung. Sie wissen, die Sache
selbst hat einige dunkle Punkte, und ich nehme an, es
würde Ihnen mehr konveniren, wir zwei besprächen
dieselbe unter uns, ehe wir Fremde hineinziehen."
„Was wollen Sie damit sagen?"
„Vorerst erlauben Sie wohl, daß ich mich setze,"
erwiderte der Gentleman mit edler Dreistigkeit, „und
nun gestatten Sie mir ein offenes Wort im Vertrauen.
Fräulein Ellen ist die Nichte meines Vaters, und mein
Vater hat von seinem verstorbenen Bruder gewisse,
gleichsam letztwillige Verfügungen iu Händen, die mehr
meine Bewerbung um die Hand der jungen Dame
unterstützen dürften, als — die Ihrigen."
„So?" Doktor Streit konnte ein sarkastisches
Lächeln nicht unterdrücken; er wußte, daß der Mensch
da vor ihm log. „Sehr interessant!" sagte er und
blickte liebäugelnd nach der derben Reitpeitsche, die
neben den Schlägern an der Wand hing.
„Ich komme also, um Ihnen ein Geschäft anzu-
bieten," fuhr Herr Schindler fort, der dem Blicke ge-
folgt lvar und aus Erfahrung wußte, daß er ungestraft
seines Gegners Geduld nicht allzu lange in Anspruch
nehmen dürfe.
„Ein Geschäft? . Ich rauche nur Jmportirte,"
bemerkte der andere kühl.
„Und ich habe mich im Vertrauen aus Ihre Weis-
heit eines falschen Ausdruckes bedient, Herr Doktor.
Sagen wir also, um einen Vergleich anzubieten."
„Einen Vergleich, mit mir? Ich wüßte in der
That nicht — Gilt es etwa einen Accord bezüglich
Ihrer Verpflichtung gegen Lutter L Wagener in Berlin,
die Sie total vergessen zu haben schienen?"
Der junge Herr wurde dunkelrot im Gesicht. „Meine
Privatverhältnisse, lieber Herr, gehen niemand etwas
an — bitte, merken Sie sich das."
„So? Auch nicht, wenn ich Ihnen sage, daß ich
diese Schuld bezahlt habe nicht aus Rücksicht gegen
Sie, sondern weil ich mich schämte eines Menschen,
der, sich ans meine Freundschaft berufend, den Ober-
kellner anpumpte. Was aber Ihre Privatverhältnisse
betrifft, wie Sie sich auszudrücken belieben, so könnte
es sich ereignen, daß mein Vater als Anwalt einer
Dame, aus deren Hause Sie gewaltsam entfernt werden
mußten, diese,Verhältnisse näher in Betrachtung zieht,
ganz abgesehen von den Schritten, die Herr Doktor
Kornemann sich vorgenommen hat."
Doktor Streit erhob sich rasch, schritt zur Thüre
und öffnete sie, bei welcher Gelegenheit der kleine
Schreiber ihm fast in die Arme fiel; er hatte offenbar
gehorcht. „Sie können nach Hause gehen," sagte der
junge Prinzipal, ohne der sonderbaren Erscheinung
weiter nachzugrübeln. Dann trat er wieder zum
Schreibtisch und bemerkte iu kühlem Geschäftston: „So,
jetzt sind wir allein; nun sprechen Sie sich aus —
was wollen Sie eigentlich?"
Herrn Schindler gefiel dieses „Alleinsein" durchaus
nicht. Er beeilte sich daher zu sagen: „Ich handle
ja nur in Ihrem Interesse, oder vielmehr in unserer
beider Interesse, wenn ich mir erlaube, diesen,Vergleich'
vvrzuschlagen."
„Und der heißt?"
„Sie lieben meine Cousine, das ist das eine Fak-
tum; ich liebe sie ebenfalls, das andere Faktum; wir
lieben sie also beide. Ich bin aber bereit, meine An-
sprüche —"
„Sie haben keine Ansprüche," unterbrach Doktor-
Streit mit scharfem Tone. „Was Sie mir vorhin
erzählten von testamentarischen Verfügungen des
Vaters, erkläre ich für eine Lüge, und die herzlose
Art, mit der Ihr Vater seine Unterstützung der Waise
versagte, als mein Vater ihn darum lmt, begründet
wohl nicht gerade Ansprüche, wie Sie sie erheben.
Ferner, wer sagt Ihnen, daß ich das Mädchen liebe?
Ich habe meines Wissens Ihnen nie auch nur einen
Schein von Vertrauen geschenkt. Also nochmals, wie
kommen Sie daraus?"
„Ich habe es nicht mündlich von Ihnen erfahren,
darin gebe ich Ihnen recht, Herr Doktor. Es ist
etwas Besseres, ick) habe es schriftlich."
Der junge Advokat lachte. „Schriftlich? Belieben
Sie zu träumen?"
„Ich bin kein Träumer; ich weiß, was ich thue,
sage, unternehme Wollen Sie eine Abschrift lesen?
Hier — das Original besitze ich, aber Sie können's
billig haben."
Doktor Streit nahm das Blatt Eine tiefe Röte
des Unwillens überzog das hübsche Gesicht. Endlich
fragte er: „Woher haben Sie den Brief?"
„Gefunden, Herr Doktor." Es klang ungemein
zuvorkommend.

„Gesunden - wo?"
„Das ist meine Sache ganz allein; genug, ich be-
sitze diesen Ihren Brief an meine Cousine Ellen, und
die Unterschrift lautet: ,Ewig Deiu Willy'."
„Wenn der Brief nicht bis heute abend in meinen
Händen ist - doch davon nachher; ich weiß noch immer
nicht," fuhr Doktor Streit etwas ruhiger fort, „welchen
Schacher Sie im Sinne haben. ' Meinen Sie etwa,
ich soll den Bries kaufen, so täuschen Sie sich gründlich,
eS gibt andere Mittel, gefundenes Eigentum zu rekln-
miren, wenn es überhaupt nur gefuudeu ist."
„Wir wollen die Sache kurz macheu, Herr Doktor,"
sagte der andere, dem gewisse Anzeichen einer heran-
nahenden Katastrophe den Aufenthalt ungemütlich er-
scheinen ließen. „Ich erlaube mir also folgenden Vor-
schlag: Ich trete zurück von allen Ansprüchen aus die
Hand meiner Cousine, ich bürge ferner dafür, daß auch
mein Vater nicht ferner Ihre Wege kreuzt, ja, ich
Helse Ihnen, das Mädchen zu erlangen, und Sie
helfen mir, ein selbständiges Geschäft zu etabliren —"
„Nur weiter."
„Sie zahlen mir eine runde Summe, sagen wir —"
Die Geduld des jungen Advokaten war zu Ende.
Mit einer unzweideutigen Bewegung langte er nach
der Peitsche an der Wand. In demselben Augenblick
jedoch war Herr Schindler verschwunden; vom Haus-
flur rief er noch zurück: „Sie sollen an mich denken!"
Doktor Streit fühlte einen Moment etwas wie
Schwindel; er warf die Peitsche aufs Sofa und
murmelte: „Da bin ich einmal wieder recht ungeschickt
gewesen, recht hitzig, wie ein Advokat es nie werden
sollte, will er sich nicht Blößen geben. Papa würde
ironisch sagen: ,Du bist noch immer Student; gehe
ein Jahr aus Reisen, ehe Du praktizirst? Aber was
uun? Hat Paula den Brief verloren, oder Ellen?
Ich muß darüber klar werden, und will noch vor
Tische hinaus gehen; vielleicht muß Papa die Sache
in die Hand nehmen. Im übrigen, der Brief enthält
nichts Besonderes, nur die Bitte, aus den alten Groß-
vater zu wirken und auf Fräulein Dobers, daß sie —
hm — es ist eine ärgerliche Geschichte."
Er ergriff Hut und Handschuhe und schritt über
den Jungsernstieg nach Sankt Georg, der väterlichen
Wohnung zu.
Inzwischen war es dem kleinen Schreiber nicht
eingefallen, sich sofort zu eutseruen; er hatte vielmehr
noch einige recht pikante Neuigkeiten aus dem Zimmer-
seines Prinzipals erhorcht, und war erst, als das immer-
lauter werdende Gespräch der beiden Herren sich dem
Ende zu nähern schien, sortgeschlichen, nm bei Muttern
zu frühstücken und seine wertvollen Neuigkeiten gut
anzubringen. Die brave Frau, Witwe des Tischler-
meisters Damm, wohnte in einem „Gang" des neuen
Steinwegs, und nährte sich und ihre zahlreiche Nach-
kommenschaft, unter welcher Moritz, der Schreiber, der
Zweitgeborene war, durch Waschen und Plätten für
seine Häuser; die älteste Tochter, Hanne, ein frisches,
neunzehnjähriges Mädchen, diente im Vorderhause bei
Fräulein Sarah Kohn und war zugleich die Vertraute
derselben, denn die hübsche saubere Dirue hatte als
Kind ihre jetzige Herrin täglich besuchen müssen, um
mit ihr zu spielen.
Moritz, ein sechzehnjähriger, kleiner, etwas ver-
wachsener Mensch, war ein überaus schlauer Bursche.
Zum Handwerk zu schwach und daher von der Mutter
zum Schreiber bestimmt, entsprach er dieser Wahl vor-
züglich, denn er schrieb in der Thal sehr schön. Heute
schien er etwas aufgeregt zu sein und die Mutter-
redete ihn darauf au: „Wat kümmst Du all to Hus?"
sagte sie, „un is noch nich 'mal twels. Hat Din Herr-
Di all wegjagt?" Sie mochte dem Schlingel wohl
nicht viel Gutes zutrauen, denn sie zog ihn plötzlich
an sich und sah ihm in die Augen.
„Herr Doktor hat mich sortgeschickt," behauptete
der Junge. „Er hatte Besuch und ich konnte alles
hören, was sie sprachen."
„Darüm?"
„Ja; nm. anderes nicht."
„Wokein war denn bi em?" examinirte die alte
Frau weiter, die eine gute Portion Neugier besaß.
„Na, der Moschü Schindler, der immer zu Mam-
sell Sarah geht. Hanue sagt ja, sie wären Braut-
leute."
„Un Du hast dat all mit auhört?"
„Ja," beharrte der Junge und greinte vor Ver-
gnügen, „aber ich sag s nicht."
„Mi kannst Du dat doch verteilen."
„Ne! -- Ich sag's Hanne, wenn sie mir Vier-
Schilling gibt."
„Du bist 'n Schleef," zürnte die Frau und langte
in die Tasche, „'n Schilling will 'k Di geben, nn
vertell!"
Aber in diesem Augenblick erschien die hübsche
Tochter persönlich mit einem Korb Wäsche und nun
wurde die Neuigkeit von drei Seiten verhandelt. Schließ-
lich erhielt der Bengel von jeder Partei einen Schil-
ling und erzählte, was er erhorcht hatte, ganz wahr-
heitsgetreu, wie es einem ehrlichen Schreiber zukommt.
 
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