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Illustrirte Welt.
Federhalter sorgsam an den Leimflächen ausnestelt und
die Klappen zurückbiegt, um ihn ja noch einmal zu
benutzen — fuhr es dem Lauscher spottend durch den
Sinn,
In diesem Augenblick schlug der Grabende mit
dem leeren Eisen aus einen eben ausgeworfenen Stein.
Der schrille, abgerissene Ton traf Dierk Skagen
wie ein Faustschlag.
Im Nu reckten sich drei Köpfe auf und spähten
über die Mauer in den Garten, und drei lange Stangen
— die Springstangen zum Passieren der Gräben —
ragten gleich schwarzen Ausrufezeichen in die Luft.
Peter Skagen grub weiter, obgleich auch er heftig
zusammengeschreckt war und ein Zittern ihn überfiel.
Aber die Männer schulterten ihre Stangen wieder
und zogen sich lautlos zurück, und Dierk Skagen sah
sie aus seinem Verstecke bald in ziemlich weiter Ent-
fernung; dann blieben sie noch einmal stehen und
trennten sich darauf, um nach verschiedenen Richtungen,
jeder seinem Heim zu, auseinander zu gehen.
Der nächtliche Arbeiter mochte sicher ihr Befremden
erregt haben; da sie aber sich überzeugt halten mochten,
der Grabende sei kein andrer als der Pastor selbst,
so entfernten sie sich ohne Laut. Wenn Johannsen
des Nachts dort, auf seinem eignen Boden, grub, so
hatte er dafür wohl auch seinen Grund, und dieser
kümmerte niemand. Der Pastor brauchte nicht zu
wissen, daß sie jetzt vom Spiele kamen, denn das war
nicht seine Sache; sie aber mischten sich nicht in das,
was ihn anging. Unrechtes konnte es so wenig sein
wie eine ihrer Partien Dreikart.
Dierk verließ vorsichtig sein Versteck und eilte zu
dem Bruder. Das Grab war tief genug. Sie legten
den toten Zeugen eines unbekannten Dramas hinein,
bedeckten das Gesicht mit dem schnell hervorgeholten
Taschentuche Peters, schaufelten die Erde wieder ein
und traten sie, als sie einen kleinen Hügel bildete, fest.
Dann eilten sie, den Spaten bis ans Haus mitnehmend,
in Peters Kammer zurück.
Hastig riß Peter ein paar Sachen aus seinem
Koffer, während der junge Bauer die zurückbehaltenen
Kleider des Begrabenen durchstöberte. Ein lederner
Geldbeutel enthielt einige englische Münzen; in der
Weste stak, in Papier gewickelt, eine Rolle Primtabak;
weiter fanden sich ein starkes Taschenmesser, zwei
Schlüssel und ein Knäuel Bindfaden — sonst nichts;
kein Papier, kein irgendwelcher Ausweis.
Dierk band die Kleider zusammen.
„Bist dn fertig?" fragte er ungeduldig.
„Gleich."
Der Bauer öffnete prüfend den Koffer.
„Das geht nicht! Mach alles wieder in Ordnung."
Peter packte und glättete.
„Sv."
„Und die Kleider des Pastors? Die dürfen nicht
hier bleiben. Häng sie an die Thür zurück. Sind
sie sauber?"
Er untersuchte den Schlafrock genau und bemühte
sich, ein paar Erdflecke sorgfältig zu entfernen.
„Hast du deine Papiere?"
„Ja."
Sie löschten das Licht und spähten und lauschten
aus dem Fenster. Alles war ruhig. Dierk warf die
zu einem Bündel verschnürten Kleider des Fremden
voraus und kletterte nach. Peter folgte. Das Fenster
blieb lose angelehnt. Ungesehen erreichten sie den
Deich, überschritten ihn rasch und hielten sich so tief
an der Seeseite, daß sie landein unmöglich bemerkt
werden konnten, selbst wenn der Zufall sich ihnen
feindlich erweisen wollte.
Drittes Kapitel.
„Herr Pastor!"
Frau Owe, die von Helge Johannsen allmorgend-
lich für die Hausarbeit hinzugezogen wurde, klopfte
verwundert an die Thür zum Schlafgemach des Haus-
herrn.
„Herr Pastor, cs ist sechs durch . . ."
„Sechs, Frau Owe? Sechs ...? Ich komme sofort."
Er Pflegte so lange nur im Winter zu ruhen, im
Sommer dagegen sich regelmäßig um fünf zu erheben.
„Herr Pastor, das Fräulein ist nicht da," meldete
die Frau, als Johannsen im Schlafrock ins Wohn-
zimmer trat.
„Weiß ich, liebe Frau Owe. Sie ist bei Duwe
Aren oder, wie sie ja mit Vorliebe noch immer ge-
nannt wird, Duwe Ingwers."
„Ach so, Herr Pastor. Aber der Peter ist auch
nicht da . . ."
„Nicht? Sieh einer an! Der alte Herumtreiber
wird wieder einmal ausgeflogen sein."
„Das Fenster in seiner Kammer steht auf. Er ist
gewiß durchs Fenster gestiegen . . ."
„Lassen wir ihn, Frau Owe. Was Gesindel ist,
liebt die krummen Wege. Er wird sich schon wieder
einstellen."
„Soll ich den Kaffee besorgen, Herr Pastor?"
Johannsen bat darum.
Der Geistliche in dem weltverlorenen kleinen Kirch-
ort an der Nordsee war mit irdischen Gütern nicht
gesegnet, und das kleine Diensteinkommen schmolz durch
seine offene Geberhand noch recht merklich zusammen.
Seine Tochter mußte dem ganzen Haushalt vorstehen
und sich damit begnügen, nur die gröbsten Arbeiten
durch Hilfskräfte verrichten zu lassen. Einmal war
das anders gewesen. Einmal hatte eine Frau in dem
Pastorhause gewaltet, geräuschlos und eifrig, sich selbst
und andre innig beglückend. Aber das war lange
her. Die sanfte, um Gatten und Kind, nie um sich
selbst sorgende Frau schlief längst auf dem stillen
Friedhöfe, und ihre herangewachsene Tochter war im
Haushalt ihre emsige Nachfolgerin geworden. Heute
niorgen fehlte Helge dem Pastor. Es war in dem
Hause etwas aus dem Geleis geraten, das ihn un-
behaglich stimmte. Er hatte die Zeit verschlafen, er
mußte auf den Morgentrunk warten-es war
ihm neu und unlieb ... Er trat an den Wandkalender,
einen breiten Karton, holte einen Rotstift, strich den
16. Juni an und umrahmte das Vollmondszeichen
neben dem Datum des 14. Juni. So hatte er es vor
zehn Jahren auch gethan bei der Springflut zwei
Tage nach Vollmond, die damals so viel Leid in das
stille Kirchdorf und die Nachbargemeinden getragen
hatte. Diesmal war es glücklicher gegangen, und
hoffentlich versank wiederum ein Jahrzehnt unwieder-
bringlicher Vergangenheit, ehe ein ähnlicher Tag neue
Sorgen oder gar alten schweren Kummer heraus-
beschwor.
Auf dem Flur wurde Frau Owes lebhafte Stimme
laut. „Ich mach' es schon, Fräulein, ja, ja, es ist
alles in Ordnung, und der Herr Pastor ist auch schon
auf. Gehen Sie nur hinein, ich komme gleich nach
und decke, und für Sie auch mit — o ja, es ist schon
alles richtig."
Helge flog auf den Pastor zu. Ihr liebliches
Gesicht war blaß und überwacht, in ihren großen
Kinderaugen schimmerten Thränen.
„Helge!" rief der Pastor erschrocken. „Was ist?
Ist doch etwas mit Duwe geschehen?"
„Ja, Vater, sie ist krank, ernstlich erkrankt, heute
nacht."
Sie schluchzte.
Ein leichtes Frösteln überlief den Geistlichen. Er
liebte diese Duwe Axeu, wie jeder in der Gemeinde
an der trauernden, jungfräulichen Witwe mit heiliger
Verehrung hing. Und ein neuer Schlag hatte das
beklagenswerte, jugendliche Weib getroffen, ein Schlag,
der wohl gar Gefahr, ernste Gefahr für ihr Leben
mit sich brachte.
»Ist sie sehr krank?" fragte Johannsen leise, mit
vom Grunde des ehrlichen Herzens steigender Teil-
nahme.
„Ja, Vater. Sie hat sich nicht halten lassen
gestern am Abend; sie ist hinausgeeilt in den Sturm,
in die Nacht, an den gischtübersprühten Deich. Wir
mußten sie suchen, und als wir sie endlich sanden, da
war sie nahe bei Holby und kam uns entgegen in
wilder Flucht, mit aufgelöstem, im Sturm flatterndem
Haar und riß uns fort in marternder, atemraubender
Angst. Sie will ihren Gatten gesehen haben,,von den
türmenden Wogen emporgehoben zu den fliegenden
Wolken und wieder hinabgestoßen in den schwarzen,
gähnenden Abgrund zwischen den Wasserbergen, bis
eine Faust sich ausstreckte vom Deiche aus, riesengroß,
schattenhaft unfaßbar, und den Toten aus dem Wasser-
grabe heraufzog, zu sich, auf den Deich. Und dann
— dann sei der Tote ein andrer gewesen, und das
Meer hätte gewimmelt von tausend todtraurigen,
brechenden Augen, die sie angestiert hätten in letztem,
ungeheurem Weh und sie sortgetrieben mit verzehren-
der Qual. Und jetzt, Vater — jetzt liegt sie da, bleich,
mit eingefallenen Wangen, die Äugen geschlossen, den
zitternden Mund geöffnet zu irren Rufen und Reden.
O die arme Duwe!"
Johannsen war erschüttert.
„Komm, ich begleite dich."
Er schob die weinende Tochter sanft von sich und
eilte ins Schlafzimmer. Bald kam er zum Ausgehen
gekleidet zurück.
„Komm, mein Kind."
Er instruierte flüchtig die Aufwartefrau und drängte,
ohne einen Bissen genossen zu haben, fort.
Die alten Eltern Duwes drohten dem Kummer
fast zu erliegen. Der Vater stand am Bette seines
Kindes und blickte mit starreni, thräncnlosem Auge
auf die Kranke, die Mutter kniete neben dem Lager
und rang die Hände in stummer Verzweiflung. Voll
Dankbarkeit wandten beide sich dem eintretenden Pastor
zu; aber sie gingen ihm nicht entgegen, wie sie es
sonst zu thun pflegten; wie gebannt verharrten sie am
Lager derjenigen, die ihnen lieber war als ihr eignes
Leben, und die um ihren kurzen Glückstraum litt nun
schon ein langes Jahrzehnt.
Niels Johannsen beugte sich über die Fiebernde
und strich ihr sanft das Haar von der heißen Stirn;
sie schlug unter der linden Berührung die Augen auf.
aber kein Zug des Erkennens belebte ihre starren Züge.
Der Pastor sah lange auf sie nieder; sie war die
strahlendste, lieblichste Braut gewesen, die er hatte
segnen dürfen, und sie war das ergreifendste Bild des
Jammers, das ihni in seinem erfahrungsreichen Leben
vor Augen getreten war. Die göttlichste der dem
Menschen ins Herz gesenkten Gaben, die Liebe — sie
hatte dieses junge, reine Weib auf Engelsflügeln em-
porgetragen in lichte Höhen und es dann in um so
tieferem Falle erbarmungslos zurückgeschleudert iu den
stickenden, lebenraubenden, geistumnachtenden Staub
der Erde.
Helge hatte der Kranken die Kissen zurechtgestrichen
und blieb dann neben ihr stehen, eine der heißen,
durchsichtigen Hände mit ihrer arbeitsharten Rechten
bedeckend. Und als ob die bloße Anwesenheit der
Freundin oder die leise Berührung einen beruhigenden
Einfluß auf die Leidende ausübte — sie atmete regel-
mäßiger, und das nervöse Zucken der blassen Lippen
verlor sich.
Johannsen trat zurück. Wer hier not that, war
nicht der Geistliche, sondern der Arzt.
Noch vor der fünften Morgenstunde war zu ihm
geschickt worden, aber er wohnte in Deezbüll, über eine
Stunde entfernt, und hätte selbst im glücklichsten Falle
bisher nicht eintreffen können, konnte höchstens, wenn
er sofort nach Ankunft des Boten ausgebrochen war,
eben jetzt erwartet werden.
Sehnsüchtig hielt Johannsen über die baumlose
Ebene Ausblick, und ein Ruf der Freude entfloh ihm,
als er den Boten, einen jungen Burschen, in Be-
gleitung eines Mannes unfern mit Hilfe der üblichen
Stangen über einen Graben springen gewahrte.
Freudig nickte er den Eltern der Kranken zu und
glücklich auch seiner Tochter.
Bald trat der Arzt ein, ein Mann in der Mitte
der Dreißiger, von hoher, etwas eckiger Gestalt, mit
charaktervollem Kopf, die klugen, grauen, forschenden
Augen von einer Brille bedeckt.
Ingwers sah erstaunt auf.
„Nicht vr. Feddersen . . . ?" fragte er mit leichter
Enttäuschung.
„vr. Johannes Jessen," entgegnete der Arzt kurz,
sich vorstellend. „Ich vertrete meinen väterlichen
Freund, der zur Erholung verreist ist. Wollen Sie
mir Ihre Kranke anvertrauen?"
Er sprach gedämpft und doch angenehm klangvoll.
„Mit Freude und Hoffnung, Herr Doktor," er-
widerte Johannsen für die Eltern.
Der Arzt untersuchte lange und sorgfältig. Alt-
er zu Ende war, blickte er fragend aus Johannsen,
den schon die Kleidung unverkennbar als Geistlichen
kennzeichnete.
„Auf ein Wort, Herr Pastor — ich bitte: allein."
Sie gingen ins Nebenzimmer, die sogenannte „gute
Stube".
„Der Fall liegt ernst," hob vr. Jessen an. „Wollen
Sie mir auf eine Frage nach bestem Wissen Auskunft
geben?"
„Ich lese zunächst die Frage in Ihren Augen, wer
ich bin; Niels Johannsen, Pastor von Holby. Was
wünschen Sie über die Kranke zu erfahren?"
„Das junge Weib ist leidend durch seelische Er-
schütterung. Können Sie mir für eine solche einen
Anhalt geben?"
Johannsen erzählte von dem Ursprung der Geistes-
umnachtung Duwes und von den Ereignissen der
Sturmnacht.
Der Arzt horchte aufmerksam zu, dann nickte er
vor sich hin.
„Ist Gefahr, Herr Doktor?"
„Ich kann es nicht leugnen."
»Ist — Hoffnung?" forschte Johannsen mit so
tiefer Bestürzung im Ton, daß der Arzt von aus-
quellender Teilnahme bewegt wurde.
„Mit Gottes Hilfe, Herr Pastor."
Johannsen ergriff hastig seine Hand.
„Thun Sie das Ihre, Herr Doktor!"
Der Arzt traf seine Anordnungen, gewandt, ruhig
und bestimmt.
„Das erste und vorläufig alles, was der Kranken
not thut, ist: Ruhe, nichts als Ruhe. Diese muß,
wenn sie nicht anders zu erreichen ist, erzwungen
werden. Halten Sie jedes Geräusch fern und alles,
was sie irgend erregen könnte. Daß die Kranke ge-
hütet werden muß, nicht einen Augenblick sich allein
überlassen bleiben darf — wo so viel Teilnahme ihr
Lager umsteht, brauche ich das nicht zu betonen.
Gegen Abend komme ich noch einmal. Wird mein
Erscheinen im Laufe des Tages oder der Nacht not-
wendig, das heißt, zeigt sich an der Kranken eine be-
unruhigende Veränderung, so schicken Sie sofort
zu mir."
Er kam am Abend wieder und flößte der unruhigen
Kranken eine geringe Dosis Chloralhydrat ein. Sie
fiel bäld daraus in Schlaf, und der Schlaf hielt an,
bis der Morgen den Arzt wieder an ihr Bett führte.
Drei lange Wochen rang das jnnge Leben mit dem
Illustrirte Welt.
Federhalter sorgsam an den Leimflächen ausnestelt und
die Klappen zurückbiegt, um ihn ja noch einmal zu
benutzen — fuhr es dem Lauscher spottend durch den
Sinn,
In diesem Augenblick schlug der Grabende mit
dem leeren Eisen aus einen eben ausgeworfenen Stein.
Der schrille, abgerissene Ton traf Dierk Skagen
wie ein Faustschlag.
Im Nu reckten sich drei Köpfe auf und spähten
über die Mauer in den Garten, und drei lange Stangen
— die Springstangen zum Passieren der Gräben —
ragten gleich schwarzen Ausrufezeichen in die Luft.
Peter Skagen grub weiter, obgleich auch er heftig
zusammengeschreckt war und ein Zittern ihn überfiel.
Aber die Männer schulterten ihre Stangen wieder
und zogen sich lautlos zurück, und Dierk Skagen sah
sie aus seinem Verstecke bald in ziemlich weiter Ent-
fernung; dann blieben sie noch einmal stehen und
trennten sich darauf, um nach verschiedenen Richtungen,
jeder seinem Heim zu, auseinander zu gehen.
Der nächtliche Arbeiter mochte sicher ihr Befremden
erregt haben; da sie aber sich überzeugt halten mochten,
der Grabende sei kein andrer als der Pastor selbst,
so entfernten sie sich ohne Laut. Wenn Johannsen
des Nachts dort, auf seinem eignen Boden, grub, so
hatte er dafür wohl auch seinen Grund, und dieser
kümmerte niemand. Der Pastor brauchte nicht zu
wissen, daß sie jetzt vom Spiele kamen, denn das war
nicht seine Sache; sie aber mischten sich nicht in das,
was ihn anging. Unrechtes konnte es so wenig sein
wie eine ihrer Partien Dreikart.
Dierk verließ vorsichtig sein Versteck und eilte zu
dem Bruder. Das Grab war tief genug. Sie legten
den toten Zeugen eines unbekannten Dramas hinein,
bedeckten das Gesicht mit dem schnell hervorgeholten
Taschentuche Peters, schaufelten die Erde wieder ein
und traten sie, als sie einen kleinen Hügel bildete, fest.
Dann eilten sie, den Spaten bis ans Haus mitnehmend,
in Peters Kammer zurück.
Hastig riß Peter ein paar Sachen aus seinem
Koffer, während der junge Bauer die zurückbehaltenen
Kleider des Begrabenen durchstöberte. Ein lederner
Geldbeutel enthielt einige englische Münzen; in der
Weste stak, in Papier gewickelt, eine Rolle Primtabak;
weiter fanden sich ein starkes Taschenmesser, zwei
Schlüssel und ein Knäuel Bindfaden — sonst nichts;
kein Papier, kein irgendwelcher Ausweis.
Dierk band die Kleider zusammen.
„Bist dn fertig?" fragte er ungeduldig.
„Gleich."
Der Bauer öffnete prüfend den Koffer.
„Das geht nicht! Mach alles wieder in Ordnung."
Peter packte und glättete.
„Sv."
„Und die Kleider des Pastors? Die dürfen nicht
hier bleiben. Häng sie an die Thür zurück. Sind
sie sauber?"
Er untersuchte den Schlafrock genau und bemühte
sich, ein paar Erdflecke sorgfältig zu entfernen.
„Hast du deine Papiere?"
„Ja."
Sie löschten das Licht und spähten und lauschten
aus dem Fenster. Alles war ruhig. Dierk warf die
zu einem Bündel verschnürten Kleider des Fremden
voraus und kletterte nach. Peter folgte. Das Fenster
blieb lose angelehnt. Ungesehen erreichten sie den
Deich, überschritten ihn rasch und hielten sich so tief
an der Seeseite, daß sie landein unmöglich bemerkt
werden konnten, selbst wenn der Zufall sich ihnen
feindlich erweisen wollte.
Drittes Kapitel.
„Herr Pastor!"
Frau Owe, die von Helge Johannsen allmorgend-
lich für die Hausarbeit hinzugezogen wurde, klopfte
verwundert an die Thür zum Schlafgemach des Haus-
herrn.
„Herr Pastor, cs ist sechs durch . . ."
„Sechs, Frau Owe? Sechs ...? Ich komme sofort."
Er Pflegte so lange nur im Winter zu ruhen, im
Sommer dagegen sich regelmäßig um fünf zu erheben.
„Herr Pastor, das Fräulein ist nicht da," meldete
die Frau, als Johannsen im Schlafrock ins Wohn-
zimmer trat.
„Weiß ich, liebe Frau Owe. Sie ist bei Duwe
Aren oder, wie sie ja mit Vorliebe noch immer ge-
nannt wird, Duwe Ingwers."
„Ach so, Herr Pastor. Aber der Peter ist auch
nicht da . . ."
„Nicht? Sieh einer an! Der alte Herumtreiber
wird wieder einmal ausgeflogen sein."
„Das Fenster in seiner Kammer steht auf. Er ist
gewiß durchs Fenster gestiegen . . ."
„Lassen wir ihn, Frau Owe. Was Gesindel ist,
liebt die krummen Wege. Er wird sich schon wieder
einstellen."
„Soll ich den Kaffee besorgen, Herr Pastor?"
Johannsen bat darum.
Der Geistliche in dem weltverlorenen kleinen Kirch-
ort an der Nordsee war mit irdischen Gütern nicht
gesegnet, und das kleine Diensteinkommen schmolz durch
seine offene Geberhand noch recht merklich zusammen.
Seine Tochter mußte dem ganzen Haushalt vorstehen
und sich damit begnügen, nur die gröbsten Arbeiten
durch Hilfskräfte verrichten zu lassen. Einmal war
das anders gewesen. Einmal hatte eine Frau in dem
Pastorhause gewaltet, geräuschlos und eifrig, sich selbst
und andre innig beglückend. Aber das war lange
her. Die sanfte, um Gatten und Kind, nie um sich
selbst sorgende Frau schlief längst auf dem stillen
Friedhöfe, und ihre herangewachsene Tochter war im
Haushalt ihre emsige Nachfolgerin geworden. Heute
niorgen fehlte Helge dem Pastor. Es war in dem
Hause etwas aus dem Geleis geraten, das ihn un-
behaglich stimmte. Er hatte die Zeit verschlafen, er
mußte auf den Morgentrunk warten-es war
ihm neu und unlieb ... Er trat an den Wandkalender,
einen breiten Karton, holte einen Rotstift, strich den
16. Juni an und umrahmte das Vollmondszeichen
neben dem Datum des 14. Juni. So hatte er es vor
zehn Jahren auch gethan bei der Springflut zwei
Tage nach Vollmond, die damals so viel Leid in das
stille Kirchdorf und die Nachbargemeinden getragen
hatte. Diesmal war es glücklicher gegangen, und
hoffentlich versank wiederum ein Jahrzehnt unwieder-
bringlicher Vergangenheit, ehe ein ähnlicher Tag neue
Sorgen oder gar alten schweren Kummer heraus-
beschwor.
Auf dem Flur wurde Frau Owes lebhafte Stimme
laut. „Ich mach' es schon, Fräulein, ja, ja, es ist
alles in Ordnung, und der Herr Pastor ist auch schon
auf. Gehen Sie nur hinein, ich komme gleich nach
und decke, und für Sie auch mit — o ja, es ist schon
alles richtig."
Helge flog auf den Pastor zu. Ihr liebliches
Gesicht war blaß und überwacht, in ihren großen
Kinderaugen schimmerten Thränen.
„Helge!" rief der Pastor erschrocken. „Was ist?
Ist doch etwas mit Duwe geschehen?"
„Ja, Vater, sie ist krank, ernstlich erkrankt, heute
nacht."
Sie schluchzte.
Ein leichtes Frösteln überlief den Geistlichen. Er
liebte diese Duwe Axeu, wie jeder in der Gemeinde
an der trauernden, jungfräulichen Witwe mit heiliger
Verehrung hing. Und ein neuer Schlag hatte das
beklagenswerte, jugendliche Weib getroffen, ein Schlag,
der wohl gar Gefahr, ernste Gefahr für ihr Leben
mit sich brachte.
»Ist sie sehr krank?" fragte Johannsen leise, mit
vom Grunde des ehrlichen Herzens steigender Teil-
nahme.
„Ja, Vater. Sie hat sich nicht halten lassen
gestern am Abend; sie ist hinausgeeilt in den Sturm,
in die Nacht, an den gischtübersprühten Deich. Wir
mußten sie suchen, und als wir sie endlich sanden, da
war sie nahe bei Holby und kam uns entgegen in
wilder Flucht, mit aufgelöstem, im Sturm flatterndem
Haar und riß uns fort in marternder, atemraubender
Angst. Sie will ihren Gatten gesehen haben,,von den
türmenden Wogen emporgehoben zu den fliegenden
Wolken und wieder hinabgestoßen in den schwarzen,
gähnenden Abgrund zwischen den Wasserbergen, bis
eine Faust sich ausstreckte vom Deiche aus, riesengroß,
schattenhaft unfaßbar, und den Toten aus dem Wasser-
grabe heraufzog, zu sich, auf den Deich. Und dann
— dann sei der Tote ein andrer gewesen, und das
Meer hätte gewimmelt von tausend todtraurigen,
brechenden Augen, die sie angestiert hätten in letztem,
ungeheurem Weh und sie sortgetrieben mit verzehren-
der Qual. Und jetzt, Vater — jetzt liegt sie da, bleich,
mit eingefallenen Wangen, die Äugen geschlossen, den
zitternden Mund geöffnet zu irren Rufen und Reden.
O die arme Duwe!"
Johannsen war erschüttert.
„Komm, ich begleite dich."
Er schob die weinende Tochter sanft von sich und
eilte ins Schlafzimmer. Bald kam er zum Ausgehen
gekleidet zurück.
„Komm, mein Kind."
Er instruierte flüchtig die Aufwartefrau und drängte,
ohne einen Bissen genossen zu haben, fort.
Die alten Eltern Duwes drohten dem Kummer
fast zu erliegen. Der Vater stand am Bette seines
Kindes und blickte mit starreni, thräncnlosem Auge
auf die Kranke, die Mutter kniete neben dem Lager
und rang die Hände in stummer Verzweiflung. Voll
Dankbarkeit wandten beide sich dem eintretenden Pastor
zu; aber sie gingen ihm nicht entgegen, wie sie es
sonst zu thun pflegten; wie gebannt verharrten sie am
Lager derjenigen, die ihnen lieber war als ihr eignes
Leben, und die um ihren kurzen Glückstraum litt nun
schon ein langes Jahrzehnt.
Niels Johannsen beugte sich über die Fiebernde
und strich ihr sanft das Haar von der heißen Stirn;
sie schlug unter der linden Berührung die Augen auf.
aber kein Zug des Erkennens belebte ihre starren Züge.
Der Pastor sah lange auf sie nieder; sie war die
strahlendste, lieblichste Braut gewesen, die er hatte
segnen dürfen, und sie war das ergreifendste Bild des
Jammers, das ihni in seinem erfahrungsreichen Leben
vor Augen getreten war. Die göttlichste der dem
Menschen ins Herz gesenkten Gaben, die Liebe — sie
hatte dieses junge, reine Weib auf Engelsflügeln em-
porgetragen in lichte Höhen und es dann in um so
tieferem Falle erbarmungslos zurückgeschleudert iu den
stickenden, lebenraubenden, geistumnachtenden Staub
der Erde.
Helge hatte der Kranken die Kissen zurechtgestrichen
und blieb dann neben ihr stehen, eine der heißen,
durchsichtigen Hände mit ihrer arbeitsharten Rechten
bedeckend. Und als ob die bloße Anwesenheit der
Freundin oder die leise Berührung einen beruhigenden
Einfluß auf die Leidende ausübte — sie atmete regel-
mäßiger, und das nervöse Zucken der blassen Lippen
verlor sich.
Johannsen trat zurück. Wer hier not that, war
nicht der Geistliche, sondern der Arzt.
Noch vor der fünften Morgenstunde war zu ihm
geschickt worden, aber er wohnte in Deezbüll, über eine
Stunde entfernt, und hätte selbst im glücklichsten Falle
bisher nicht eintreffen können, konnte höchstens, wenn
er sofort nach Ankunft des Boten ausgebrochen war,
eben jetzt erwartet werden.
Sehnsüchtig hielt Johannsen über die baumlose
Ebene Ausblick, und ein Ruf der Freude entfloh ihm,
als er den Boten, einen jungen Burschen, in Be-
gleitung eines Mannes unfern mit Hilfe der üblichen
Stangen über einen Graben springen gewahrte.
Freudig nickte er den Eltern der Kranken zu und
glücklich auch seiner Tochter.
Bald trat der Arzt ein, ein Mann in der Mitte
der Dreißiger, von hoher, etwas eckiger Gestalt, mit
charaktervollem Kopf, die klugen, grauen, forschenden
Augen von einer Brille bedeckt.
Ingwers sah erstaunt auf.
„Nicht vr. Feddersen . . . ?" fragte er mit leichter
Enttäuschung.
„vr. Johannes Jessen," entgegnete der Arzt kurz,
sich vorstellend. „Ich vertrete meinen väterlichen
Freund, der zur Erholung verreist ist. Wollen Sie
mir Ihre Kranke anvertrauen?"
Er sprach gedämpft und doch angenehm klangvoll.
„Mit Freude und Hoffnung, Herr Doktor," er-
widerte Johannsen für die Eltern.
Der Arzt untersuchte lange und sorgfältig. Alt-
er zu Ende war, blickte er fragend aus Johannsen,
den schon die Kleidung unverkennbar als Geistlichen
kennzeichnete.
„Auf ein Wort, Herr Pastor — ich bitte: allein."
Sie gingen ins Nebenzimmer, die sogenannte „gute
Stube".
„Der Fall liegt ernst," hob vr. Jessen an. „Wollen
Sie mir auf eine Frage nach bestem Wissen Auskunft
geben?"
„Ich lese zunächst die Frage in Ihren Augen, wer
ich bin; Niels Johannsen, Pastor von Holby. Was
wünschen Sie über die Kranke zu erfahren?"
„Das junge Weib ist leidend durch seelische Er-
schütterung. Können Sie mir für eine solche einen
Anhalt geben?"
Johannsen erzählte von dem Ursprung der Geistes-
umnachtung Duwes und von den Ereignissen der
Sturmnacht.
Der Arzt horchte aufmerksam zu, dann nickte er
vor sich hin.
„Ist Gefahr, Herr Doktor?"
„Ich kann es nicht leugnen."
»Ist — Hoffnung?" forschte Johannsen mit so
tiefer Bestürzung im Ton, daß der Arzt von aus-
quellender Teilnahme bewegt wurde.
„Mit Gottes Hilfe, Herr Pastor."
Johannsen ergriff hastig seine Hand.
„Thun Sie das Ihre, Herr Doktor!"
Der Arzt traf seine Anordnungen, gewandt, ruhig
und bestimmt.
„Das erste und vorläufig alles, was der Kranken
not thut, ist: Ruhe, nichts als Ruhe. Diese muß,
wenn sie nicht anders zu erreichen ist, erzwungen
werden. Halten Sie jedes Geräusch fern und alles,
was sie irgend erregen könnte. Daß die Kranke ge-
hütet werden muß, nicht einen Augenblick sich allein
überlassen bleiben darf — wo so viel Teilnahme ihr
Lager umsteht, brauche ich das nicht zu betonen.
Gegen Abend komme ich noch einmal. Wird mein
Erscheinen im Laufe des Tages oder der Nacht not-
wendig, das heißt, zeigt sich an der Kranken eine be-
unruhigende Veränderung, so schicken Sie sofort
zu mir."
Er kam am Abend wieder und flößte der unruhigen
Kranken eine geringe Dosis Chloralhydrat ein. Sie
fiel bäld daraus in Schlaf, und der Schlaf hielt an,
bis der Morgen den Arzt wieder an ihr Bett führte.
Drei lange Wochen rang das jnnge Leben mit dem