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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 1.1912

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Pfister, Oskar: Anwendungen der Psychanalyse in der Pädagogik und Seelsorge
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https://doi.org/10.11588/diglit.42094#0064

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Dr. Oskar Pfister

Anwendungen der Psychanalyse in der Pädagogik


Von DR. OSKAR PFISTER, Seminarlehrer und Pfarrer in Zürich.
Die psychanalytische Forschung hat drei sichere Ergebnisse ge®
zeitigt, welche eine Umwälzung der erzieherischen und seeF
sorgerlichen Praxis nach sich ziehen müssen.
Zunächst lieferte sie den exakten Nachweis dafür, daß unser
bewußtes Denken, Fühlen und Wollen auf Schritt und Tritt von
seelischen Motiven beherrscht wird, die unter der Bewußtseins-
schwelle liegen. Feine Menschenkenner ahnten diese »subliminalen«
{»unterschwelligen«) Mächte schon lange. Besonders die höchsten
ästhetischen, ethischen und religiösen »Offenbarungen« brachte man
oft mit solchen jenseits des Bewußtseins liegenden Tatsachen in
Zusammenhang, Schiller scheint es zu tun in seiner Schilde^
rung des Dichters:
»Wie in den Lüften der Sturmwind saust,
Man weiß nicht, von wannen er kommt und braust,
Wie der Quell aus verborgenen Tiefen,
So des Sängers Lied aus dem Innern schallt
Und wecket der dunkeln Gefühle Gewalt,
Die im Herzen wunderbar schliefen.«
Seitdem Sokrates von der bewußten ethischen Reflexion
die unmittelbare Eingebung des Daimonions unterschied, ist zum
mindesten die Stimme des Gewissens immer wieder auf nichts
bewußte Einflüsse, oft auf die vom Strahl des Bewußtseins nicht
beleuchteten Tiefen der Seele zurückgeführt worden. Die religiösen
Propheten waren sich stets klar, daß sie nicht aus eigener Ge-
dankenwelt schöpften, sondern unter Impulsen standen, die ihren
bewußten Seelenregungen oft stark widerstrebten. Auch diese sitt-
lichen und religiösen »Intuitionen« wurden, nachdem der supra-
naturalistische Wunderglaube einer wissenschaftlichen Betrachtungs-
weise gewichen war, häufig als Wirkungen unterschwelliger Vor^
gänge aufgefaßt. Der scharfsichtigste aller Hintergrundspsychologen,
Nietzsche, wagt sogar den Ausspruch: »Man muß noch den
größten Teil des bewußten Denkens unter die Instinkttätigkeiten
rechnen, sogar im Falle des philosophischen Denkens,-.
das meiste bewußte Denken eines Philosophen ist durch seine In-
stinkte heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen. Auch
hinter aller Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit der
Bewegung stehen Wertschätzungen, deutlicher gesprochen, physio^
logische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von
Leben *«.
Allein mit dieser Einsicht konnte die Wissenschaft bisher

Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. <Erstes Hauptstück, 3).
 
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