Bücher
197
BÜCHER
DIE ANDERE SEITE, ein phantastischer Roman mit 52 Zeichnungen von
Alfred Kubin, München 1909, bei Georg Müller.
Die Identität des Kunstwerkes mit dem Traum haben die großen Er-
fasser und Durchschauer der Menschenseele längst intuitiv erkannt und nach
ihrer Art bald in klaren Worten, bald durch vieldeutige Sinnbilder ausge-
sprochen. Die Psychoanalyse versucht es, diesen Satz wissenschaftlich zu
begründen, d. h., ihn aus einem Vorrecht des Genies zu einem Gemeingut
aller Denkenden zu machen. Sie darf nicht darauf hoffen, wie jene die Wahr-
heit im Sturm zu erobern,- nur mit langsamem, schrittweisem Vorrücken, in
einem mit Zähigkeit und Mißtrauen geführten Kampfe kann sie sidi ihrem
Ziele nähern.
Phantasien entstehen unter den verschiedensten inneren und äußeren
Bedingungen, von denen ihre verschiedenen Formen — Traum, Tagtraum,
künstlerische Vision und krankhafter Wahn — abhängen. Bleibt in diesem
Wechsel eine bestimmte Gruppe konstant, so muß diese die Ursache typischer
Züge werden, die allen Phantasien gemeinsam sind. Nach unseren Er-
fahrungen dürfen wir annehmen, daß es wirklich eine solche Gruppe gibt,
die nie fehlen darf, weil nur durch ihre Hilfe die Phantasietätigkeit — wir
nennen sie: Einstellung des psychischen Apparates auf Lustgewinnung im
Wege der Regression — ermöglicht wird. Das Zurückstreben zur frühesten
Lust, die nicht Verbot noch Sünde kannte, ist stets als Triebfeder wirksam,
welche sonstigen Anlässe auch mittätig gewesen sein mögen. Die Sehnsucht
nach dem verlorenen Paradies ist die Grundlage jeder Phantasie,
Wir behaupten also, daß die infantiLsexuellen Wünsche und Erlebe
nisse jener konstante Faktor sind und den unterirdischen Zusammenhang
zwischen allen Phantasieprodukten, vom durchdachtesten Kunstwerk bis
herab zum Stammeln des Paraphrenikers, herstellen, Dieser Versuch,
Phänomene von weit auseinanderliegender psychischer Funktion und sozialer
Bewertung zusammenzuwerfen, darf auf scharfen Widerspruch rechnen. Es
ist darum als wertvolles Argument für den gemeinsamen Ursprung und
ununterbrochenen Zusammenhang aller PhantasieüErzeugnisse zu begrüßen,
wenn wir auf Erscheinungen stoßen, die offenbar Zwischenglieder zwischen
zwei Kategorien darstellen, ähnlich wie die Lehre Darwins durch die Ent-
deckung der Übergangsstufen zwischen den verschiedenen Gattungen gz-
festigt wurde.
Dem Kunstwerk muß es gegeben sein, nicht nur bei seinem Schöpfer,
sondern auch bei anderen Lust zu erregen. Darum fordern wir von ihm,
daß es sinnvoll, geordnet, abwechslungsreich und harmonisch sei, während
der Inhalt des Traumes — auch des Tagtraumes — monoton, unmotiviert
und verworren sein darf. Wurde aus irgend welchem Grunde die Herstellung
der ästhetischen Fassade vernachlässigt, so kann es kein Zufall sein, wenn
dann gerade dieses Werk einen traumähnlichen Eindruck hervorruft/ es ist
dadurch eben für die Entstehung eines Mischgebildes zwischen Traum und
Kunst die günstigste Voraussetzung gegeben. Die typischen Züge, die
beiden gemeinsam sind, werden in einem solchen Produkt besonders grell
hervortreten und nach beiden Seiten hin — zum echten Traum und zur
»reinen« Kunstübung — müssen interessante Analogien nachweisbar sein.
Wenn ein Zeichner, der in seinem Fache Rühmliches geleistet hat,
einen Roman verfaßt, den er selbst auf dem Titel als »phantastisch« be*
zeichnet, dürfen wir wohl erwarten, daß er es mit den Regeln und Rezepten,
Imago, I/2
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DIE ANDERE SEITE, ein phantastischer Roman mit 52 Zeichnungen von
Alfred Kubin, München 1909, bei Georg Müller.
Die Identität des Kunstwerkes mit dem Traum haben die großen Er-
fasser und Durchschauer der Menschenseele längst intuitiv erkannt und nach
ihrer Art bald in klaren Worten, bald durch vieldeutige Sinnbilder ausge-
sprochen. Die Psychoanalyse versucht es, diesen Satz wissenschaftlich zu
begründen, d. h., ihn aus einem Vorrecht des Genies zu einem Gemeingut
aller Denkenden zu machen. Sie darf nicht darauf hoffen, wie jene die Wahr-
heit im Sturm zu erobern,- nur mit langsamem, schrittweisem Vorrücken, in
einem mit Zähigkeit und Mißtrauen geführten Kampfe kann sie sidi ihrem
Ziele nähern.
Phantasien entstehen unter den verschiedensten inneren und äußeren
Bedingungen, von denen ihre verschiedenen Formen — Traum, Tagtraum,
künstlerische Vision und krankhafter Wahn — abhängen. Bleibt in diesem
Wechsel eine bestimmte Gruppe konstant, so muß diese die Ursache typischer
Züge werden, die allen Phantasien gemeinsam sind. Nach unseren Er-
fahrungen dürfen wir annehmen, daß es wirklich eine solche Gruppe gibt,
die nie fehlen darf, weil nur durch ihre Hilfe die Phantasietätigkeit — wir
nennen sie: Einstellung des psychischen Apparates auf Lustgewinnung im
Wege der Regression — ermöglicht wird. Das Zurückstreben zur frühesten
Lust, die nicht Verbot noch Sünde kannte, ist stets als Triebfeder wirksam,
welche sonstigen Anlässe auch mittätig gewesen sein mögen. Die Sehnsucht
nach dem verlorenen Paradies ist die Grundlage jeder Phantasie,
Wir behaupten also, daß die infantiLsexuellen Wünsche und Erlebe
nisse jener konstante Faktor sind und den unterirdischen Zusammenhang
zwischen allen Phantasieprodukten, vom durchdachtesten Kunstwerk bis
herab zum Stammeln des Paraphrenikers, herstellen, Dieser Versuch,
Phänomene von weit auseinanderliegender psychischer Funktion und sozialer
Bewertung zusammenzuwerfen, darf auf scharfen Widerspruch rechnen. Es
ist darum als wertvolles Argument für den gemeinsamen Ursprung und
ununterbrochenen Zusammenhang aller PhantasieüErzeugnisse zu begrüßen,
wenn wir auf Erscheinungen stoßen, die offenbar Zwischenglieder zwischen
zwei Kategorien darstellen, ähnlich wie die Lehre Darwins durch die Ent-
deckung der Übergangsstufen zwischen den verschiedenen Gattungen gz-
festigt wurde.
Dem Kunstwerk muß es gegeben sein, nicht nur bei seinem Schöpfer,
sondern auch bei anderen Lust zu erregen. Darum fordern wir von ihm,
daß es sinnvoll, geordnet, abwechslungsreich und harmonisch sei, während
der Inhalt des Traumes — auch des Tagtraumes — monoton, unmotiviert
und verworren sein darf. Wurde aus irgend welchem Grunde die Herstellung
der ästhetischen Fassade vernachlässigt, so kann es kein Zufall sein, wenn
dann gerade dieses Werk einen traumähnlichen Eindruck hervorruft/ es ist
dadurch eben für die Entstehung eines Mischgebildes zwischen Traum und
Kunst die günstigste Voraussetzung gegeben. Die typischen Züge, die
beiden gemeinsam sind, werden in einem solchen Produkt besonders grell
hervortreten und nach beiden Seiten hin — zum echten Traum und zur
»reinen« Kunstübung — müssen interessante Analogien nachweisbar sein.
Wenn ein Zeichner, der in seinem Fache Rühmliches geleistet hat,
einen Roman verfaßt, den er selbst auf dem Titel als »phantastisch« be*
zeichnet, dürfen wir wohl erwarten, daß er es mit den Regeln und Rezepten,
Imago, I/2
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