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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 1.1912

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Silberer, Herbert: Märchensymbolik
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Herbert Silberer

MÄRCHENSyMBOLIK.
Von HERBERT SILBERER.
Wir alle insgesamt sind Glüdcssucher. Wir alle strengen tag«
lieh, stündlich — jeglicher nach seiner Fasson — unsere Kräfte
an, um das, was uns begehrenswert erscheint, zu gewinnen.
Und wenn uns die harte Wirklichkeit des Lebens nicht bietet, was
wir ersehnen, so flüchten wir uns gern zum Trost in ein Wunderland,
welches unseren Wünschen Erfüllung verheißt und gewährt: ins Reich
der Träume und Märchen. Dem Kinde ist dieses Land freilich am
leichtesten zugänglich. Auch dem Kinde im Erwachsenen.
Wunscherfüllung! Seit der geistreiche Zergliederer der
verworrensten Erscheinungen unseres Seelenlebens, Professor S i g«
mund Freud, seine überraschenden Arbeiten über den Traum
und die psychischen Störungen veröffentlicht hat, ist dieses Wort der
Schlüssel zum Verständnis vieler Rätsel geworden. Es hat nicht
lange gedauert, bis die zuerst an nervösen Krankheitszuständen
entdeckten Gesetze, nach denen der Traum uns seine merkwürdigen
Bilder vorgaukelt, auch in den holden Phantasien des Märchens und
in den gewaltigen Dramen des Mythos nachgewiesen wurden.
Der Mythos ist gewissermaßen der Traum des Volkes, der
Traum ist der Mythos des Einzelmenschen. Dr. Karl Abraham
erinnerte in einer Studie* über dieses Thema an das »biogenetische
Grundgesetz« der modernen Naturwissenschaft, welches besagt, daß
die Entwicklung des Individuums eine summarische Wiederholung
der Entwicklung der Rasse vorstellt. Alle die Gestaltveränderungen,
welche in langen Zeiträumen zur Bildung einer heute vorhandenen
Art von Lebewesen führten, zeigen sich nochmals, in kinematogra«
phisch rascher Folge, an der Entwicklung des dieser Art angehörigen
Einzelwesens. Es scheint, daß dieses Gesetz nicht bloß für physische,
sondern auch für psychische Verhältnisse gilt.
Sowie nach Freud der Traum jedesmal eine — wenn auch
verschleierte Erfüllung eines Wunsches darstellt, der seine geheim«
nisvollen Kräfte aus unbewußten Quellen und im letzten Grund aus
verdrängten Triebresten unserer Kindheit schöpft, so stellt sich nach
Abrahams Ausführungen auch der Mythos, der Traum des
Volkes, als eine wunscherfüllende Phantasie und als »ein Stüde über«
wundenen infantilen Seelenlebens« des Träumers, nämlich des
Volkes, dar. »Er enthält in verschleierter Form die Kindheitswünsche
des Volkes«. Und, wie der Einzelmensch seine Träume nicht ver«
steht, sie für unsinnig erklärt, weil ihm der Schlüssel zu ihrer psycho«
logischen »Deutung« fehlt, so versteht auch das Volk den wahren
Inhalt seiner Träume, der Mythen, nicht. Das mythenbildende Volk
verhält sich zu seinem geistigen Produkt fast in allen Punkten genau
so wie der Träumer zum Traum.
* Dr. Karl Abraham, »Traum und Mythus«. Leipzig und Wien. 1909.
(F. Deuticke.)
 
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