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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 1.1912

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Maeder, A.: Eindrücke eines Psychoanalytikers von einem Aufenthalt in London
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https://doi.org/10.11588/diglit.42094#0196

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Dr. Alphonse Maeder

Eindrücke eines Psychoanalytikers von einem Auf-
enthalt in London.

Von Dr. A. MAEDER (Zürich).
T "\as englische Leben bietet dem Bewohner des Kontinents
I vielseitige Anregungen,- der Psychoanalytiker kommt dabei
s*-* audi zu seinem Rechte,- ich will im folgenden versuchen,
einige meiner diesbezüglichen Beobachtungen in zwangloser Form
mitzuteilen. Man erwarte also nur Eindrücke und Einfälle meiner^
seits und keine systematische Abhandlung.
Die Frau spielt im englischen Leben eine mächtige, schon
äußerlich sichtbare Rolle. Ihre Bedeutung ist auf der Straße, in der
Gesellschaft und in der Familie überall zu erkennen,- sie ist das
Zentrum, um das sich alles dreht. Zwei extreme Haupttypen der
Frau demaskieren sich bald, sozusagen von selbst: der männliche
Typus und die Puppe. Der erstere scheint der häufigste zu sein,
der körperliche Bau weist schon viele männliche Züge auf, das Ge-
sicht hat etwas Eckiges, Grobes *, das Benehmen, die Gesten, der
Gang haben etwas unangenehm Entschlossenes, Energisches, häufig
Schwerfälliges.
Die Sufragette gehört meistens zu diesem Typus,
wie ich reichlich Gelegenheit hatte, zu beobachten. Die Bestürmung
des Hauses des Parlamentes durch die weibliche Horde, der förm-
liche Ringkampf mit Hunderten von Policemen <im November 1910)
war ein eigenartiges Bild. Dieses Poltern, Schlagen, Ringen war der
Ausdruck einer ausgesprochenen Aggressivität seitens der Frau.
Viele Szenen trugen einen schwer hysterischen Charakter. Die
masochistischen und sadistischen Triebkomponenten kamen ebenfalls
zur Betätigung: Sehr charakteristisch war mir dafür z. B. das ver-
klärte Gesicht eines etwa 17jährigen Mädchens, welches eine halbe
Stunde lang mit zwei Policemen kämpfte unter den zustimmenden
Rufen einer begeisterten weiblichen Umgebung und den höhnenden
Rufen der männlichen Anwesenden etc.

Die Sufragettenbewegung in England ist eine s o z i a 1 e Be-
wegung von großer Macht. Die Frau will aus ihrer bisherigen
Passivität heraus, sie will sich nicht mehr mit ihrer biologischen
Funktion der Fortpflanzung und mit ihrer sexuellen Rolle begnügen,-
sie will sich betätigen, sie wird aggressiv und kommt in die Fuß^
stapfen des männlidien Geschlechtes.
Die englische Frau überhaupt, nicht nur die Sufragette, hat
ein intensives Bedürfnis, eine führende Rolle zu spielen, zu

* Anthropologische Messungen, welche in der Harvard Universität (Amerika)
während der letzten zwanzig Jahre gemacht worden sind, beweisen unzweifeH
haft, daß die männlichen Züge bei den amerikanischen Frauen in deutlicher
Zunahme begriffen sind — wahrscheinlich beziehen sich die Messungen auf die
studierende Jugend der wohlhabenden Klasse.
 
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