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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 1.1912

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I.5
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Hárnik, Jenö: Psychoanalytisches aus und über Goethes "Wahlverwandtschaften"
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https://doi.org/10.11588/diglit.42094#0517

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Psychoanalytisches aus und über Goethes »Wahlverwandtschaften1

507

Psychoanalytisches aus und über Goethes »Wahl-
verwandtschaften« .
Von J. HÄRNIK, Budapest.
I.
Das Problem der Objektwahl.
Goethes großzügiger Roman: »Die Wahlverwandschaften«
behandelt bekanntlich die Liebesgeschichte eines jungen
Mäddtens (Ottilie) und eines schon reiferen Mannes (Eduard).
Ein den Analytikern wohlbekanntes Verhältnis, wobei namentlich
der psychische Entwicklungsweg von Interesse ist, auf dem das
junge Mädchen zu ihrer Liebe gelangt.
Es verlohnt sich gewiß, dem Leser die psychoanalytische Auf-
fassung dieses Prozesses in Freuds klassischer Darstellung in
Erinnerung zu bringen.
»Die Objektwahl wird zunächst in der Vorstellung vollzogen
und das Geschlechtsleben der eben reifenden Jugend hat kaum einen
anderen Spielraum, als sich in Phantasien, d. h. in nicht zur Aus^
führung bestimmten Vorstellungen zu ergehen. In diesen Phantasien
treten bei allen Menschen die infantilen Neigungen . . . ., wieder
auf und unter ihnen in gesetzmäßiger Häufigkeit und an erster
Stelle die meist bereits durch die Geschlechtsanziehung differenzierte
Sexualregung des Kindes für die Eltern, des Sohnes für die Mutter
und der Tochter für den Vater*. Gleichzeitig mit der Überwindung
und Verwerfung dieser deutlich inzestuösen Phantasien wird eine
der bedeutsamsten, aber auch schmerzhaftesten, psychischen Leistungen
der Pubertätszeit vollzogen: die Ablösung von der Autorität der
Eltern«**.
Aber »auch wer die inzestuöse Fixierung seiner Libido
glücklich vermieden hat, ist dem Einfluß derselben nicht völlig ent-
zogen. Es ist ein deutlicher Nachklang dieser Entwicklungsphase,
wenn die erste ernsthafte Verliebtheit des jungen Mannes, wie so
häufig, einem reifen Weibe, die des Mädchens einem älteren, mit
Autorität ausgestattetem Manne gilt, die ihnen das Bild der Mutter
und des Vaters beleben können. In freierer Anlehnung an diese
Vorbilder geht wohl die Objektwahl überhaupt vor sich***. Vor allem
sucht der Mann nach dem Erinnerungsbild der Mutter, wie es ihn
seit den Anfängen der Kindheit beherrscht«. (L. c. pag. 74 — 75.)
* Vergleiche die Ausführungen über das unvermeidliche Verhängnis in der
Ödipusfabel (»Traumdeutung«, 3. AufL, pag. 190).
** S. Freud: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, II. Auflage, S. 73.
*** Wer einen recht überzeugenden Eindruck von der Macht dieser Seelen^
regungen gewinnen will, der lese in Casanovas Memoiren die lebensvolle
Darstellung seiner Liebesspiele mit seiner »zweiten M. M.« nach. Übrigens wurde
auch Goethe nochmals von demselben Motive geleitet, als er die düstere Gestalt
des Rätselkindes Mignon schuf. (»Wilhelm Meisters Lehrjahre«.) Anm. des Ref.
 
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