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Hans Blüher
»Niels Lyhne« von J. P. Jakobsen und das
Problem der Bisexualität.
Eine literaturkritische Studie von HANS BLÜHER.
Die Erkenntnis der prinzipiellen Bisexualität des Menschen ist zu
einem der wichtigsten Standpunkte der modernen Sexualwissen^
schaft geworden, und zwar nimmt hierbei die Auffassung Freuds
einen gewissen Höhepunkt ein. Die Doppelgeschlechtlichkeit nicht als
eine einzelne pathologische Erscheinung, wie die Doppelköpfigkeit,
sondern als eine in der sexuellen Konstition des Menschen über-
haupt begründete und dauernd wirksame Qualität, das ist der
entscheidende Punkt. Um zu einer solchen Stellungnahme zu kommen,
war zunächst eine bedeutende E r w e i t e r u n g des Sexualitäts-
begriffes nötig gegenüber der früheren Auffassung, die bis jetzt
auch noch die populäre ist. Sexualität durfte nicht bloß das Gebiet
des mit deutlichen organischen Akten verbundenen Lustrausches
sein, sondern jede Form von Zuneigung, Hingabe, jedes Streben
nach einem andern Menschen mußte als mit einer sexuellen Quote
belegt vorgestellt werden. Die Erfahrung gibt hierzu tagtäglich
Anlaß: wir beobachten im Verkehr mit Menschen Gefühls-
äußerungen zwischen Angehörigen desselben Geschlechtes, die uns
mit den Liebesbeziehungen, wie sie sonst zwischen entgegengesetzt-
geschlechtlichen Personen Vorkommen, eine auffallende Ähnlichkeit
haben: das Drangartige, tief Bestimmende und Aufregende ist auch
hier vorhanden, selbst wenn man den Gedanken an eine geschlecht-
liche Entladung beiseite setzt. Mit einem Worte: das psychische
Verhältnis des Menschen zum Menschen überhaupt ist ein vom
Sexuellen her bestimmtes, wogegen die meisten Tiergattungen
gewöhnlich nur sexuelle Beziehungserscheinungen von einem Ge-
schlecht zum andern zeigen. Daß die Sexualität des Menschen in
der Ausübung auf der einen Seite <der mannmännlichen) sich
gewöhnlich an einer bestimmten Stelle verläuft und nicht weiter
kommt, während sie auf der andern bis zum orgiastischen Höhe^
punkt gelangt, ist eine zweite Frage, die die These der bisexuellen
Disposition nicht umwirft.
Der Mann hat also neben der meistens in der Übermacht
befindlichen heterosexuellen Neigung auch ein bestimmtes Quantum
homosexueller, mit der er fertig zu werden hat, — was freilich
nicht immer gelingt. Ist diese gering und schafft sie nur unbedeutende,
wenig erschütternde Gemütswerte, so treten keine Schwierigkeiten
ein ,• mit Ausnahme sdiwärmerischer Freundschaftsneigungen in der
Jugend, richtet sich das ganze sexuelle Wunschleben zielbewußt und
ohne Abweichung auf das Weib, dessen Besitzergreifung dann auch
gelingt. Ist die Neigung stärker, so treten immer entsprechend
stärkere Hemmungen dem Weibe gegenüber auf, der so Veranlagte
wird eine sexuell problematische und schwierige Natur: er hat mit
Hans Blüher
»Niels Lyhne« von J. P. Jakobsen und das
Problem der Bisexualität.
Eine literaturkritische Studie von HANS BLÜHER.
Die Erkenntnis der prinzipiellen Bisexualität des Menschen ist zu
einem der wichtigsten Standpunkte der modernen Sexualwissen^
schaft geworden, und zwar nimmt hierbei die Auffassung Freuds
einen gewissen Höhepunkt ein. Die Doppelgeschlechtlichkeit nicht als
eine einzelne pathologische Erscheinung, wie die Doppelköpfigkeit,
sondern als eine in der sexuellen Konstition des Menschen über-
haupt begründete und dauernd wirksame Qualität, das ist der
entscheidende Punkt. Um zu einer solchen Stellungnahme zu kommen,
war zunächst eine bedeutende E r w e i t e r u n g des Sexualitäts-
begriffes nötig gegenüber der früheren Auffassung, die bis jetzt
auch noch die populäre ist. Sexualität durfte nicht bloß das Gebiet
des mit deutlichen organischen Akten verbundenen Lustrausches
sein, sondern jede Form von Zuneigung, Hingabe, jedes Streben
nach einem andern Menschen mußte als mit einer sexuellen Quote
belegt vorgestellt werden. Die Erfahrung gibt hierzu tagtäglich
Anlaß: wir beobachten im Verkehr mit Menschen Gefühls-
äußerungen zwischen Angehörigen desselben Geschlechtes, die uns
mit den Liebesbeziehungen, wie sie sonst zwischen entgegengesetzt-
geschlechtlichen Personen Vorkommen, eine auffallende Ähnlichkeit
haben: das Drangartige, tief Bestimmende und Aufregende ist auch
hier vorhanden, selbst wenn man den Gedanken an eine geschlecht-
liche Entladung beiseite setzt. Mit einem Worte: das psychische
Verhältnis des Menschen zum Menschen überhaupt ist ein vom
Sexuellen her bestimmtes, wogegen die meisten Tiergattungen
gewöhnlich nur sexuelle Beziehungserscheinungen von einem Ge-
schlecht zum andern zeigen. Daß die Sexualität des Menschen in
der Ausübung auf der einen Seite <der mannmännlichen) sich
gewöhnlich an einer bestimmten Stelle verläuft und nicht weiter
kommt, während sie auf der andern bis zum orgiastischen Höhe^
punkt gelangt, ist eine zweite Frage, die die These der bisexuellen
Disposition nicht umwirft.
Der Mann hat also neben der meistens in der Übermacht
befindlichen heterosexuellen Neigung auch ein bestimmtes Quantum
homosexueller, mit der er fertig zu werden hat, — was freilich
nicht immer gelingt. Ist diese gering und schafft sie nur unbedeutende,
wenig erschütternde Gemütswerte, so treten keine Schwierigkeiten
ein ,• mit Ausnahme sdiwärmerischer Freundschaftsneigungen in der
Jugend, richtet sich das ganze sexuelle Wunschleben zielbewußt und
ohne Abweichung auf das Weib, dessen Besitzergreifung dann auch
gelingt. Ist die Neigung stärker, so treten immer entsprechend
stärkere Hemmungen dem Weibe gegenüber auf, der so Veranlagte
wird eine sexuell problematische und schwierige Natur: er hat mit