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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 1.1912

DOI issue:
I.3
DOI article:
Hug-Hellmuth, Hermine von; Reik, Theodor: Vom wahren Wesen der Kinderseele, [1]
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.42094#0293

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Vom wahren Wesen der Kinderseele.

285

Vom wahren Wesen der Kinderseele.
In gewisser Art lernen wir
mehr von den Kindern, als die
Kinder von uns. Wer ein Auge
hat, lernt hier den Men-
sehen. Wenn die Sonne auf*
geht, kann sie der Blick um*
fassen. — Wer kann in sie
sehen, wenn es hoch Mittag ist?
Th. Hippel.
Hat die vorliegende Zeitschrift es sich zur Aufgabe gestellt, die Er*
gebnisse der psycho*analytisdren Forschung auf alle Gebiete der Geistes*
Wissenschaften anzuwenden, um so Aufsddüsse zu geben für manches
psychische Geschehen, das bisher unerklärlich schien, so hieße es, auf halbem
Wege stehen bleiben, wollte sie sich mit der Durchleuchtung des Seelen*
lebens des Erwachsenen begnügen. Die psycho=analytische Therapie zeigt
klar den Zusammenhang auf, der regelmäßig zwischen den Symptomen neu*
rotisch Erkrankter und deren infantilen Erlebnissen statthat, ja wie gewisse
Eindrüdce aus der frühesten Kindheit geradezu bestimmend werden für
spätere Krankheitserscheinungen. Aber diese Erinnerungsspuren aufzudecken
und bis an ihre Wurzel zu verfolgen, ist eine mühevolle Arbeit, die vom
Arzte wie vom Patienten unendliche Geduld erfordert. Die Tatsache dieser
Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit, die sich dem Analytiker
täglich aufdrängt, legte die Vermutung nahe, daß auch für die Entwicklung
des körperlich und geistig Gesunden ganz bestimmten Ereignissen in der
Jugend infolge starker Gefühlsbetontheit ein entscheidender Einfluß zu*
kommt. Die Erinnerung an solche Erlebnisse geht nicht selten im Laufe
der Jahre verloren oder entbehrt zumindest jedes Zusammenhangs mit dem
übrigen Gedächtnisschatze, aber ihr Eindruck wirkt nach in jenen kleinen
Eigenheiten, von denen keiner frei ist und die geradezu das Individuum
vom Genus unterscheiden. Welcher Art die infantilen Erlebnisse sind, denen
eine so bedeutende Rolle für die Charakterbildung des Menschen zufällt,
läßt sich durch die Beobachtung des Kindes ermitteln. Hiebei stehen uns
zwei Wege zu Gebote: der eine, der Rückblick in die eigene Jugend, wie
wir ihn die Dichter in ihren autobiographischen Werken gehen sehen, ist
deshalb so schwierig, weil Eitelkeit und falsche Scham nicht selten die
Erinnerung dort abbrechen lassen, wo sie der Selbstbeobachtung peinlich
wird und Beschönigung der Wahrheit heischt. Der zweite weist uns auf
die unermüdliche objektive Beobachtung der Kinder unserer Umgebung.
Dieses Mittels haben sich die Psychologen von dem Augenblicke an be*
dient, da man sich der großen Wichtigkeit der Entwicklung der kindlichen
Seele für das spätere Leben bewußt geworden. Allein sie begnügen sich in
der Regel nach wie vor, mit größter Genauigkeit aufzuzeichnen, wann die
ersten Tränen des Kindes, wann das erste Lächeln sich gezeigt ,- sie führen
gewissenhaft Buch über die zunehmende Tätigkeit der Sinnesorgane, über
Erwerbung und Bereicherung des Wortschatzes, über Erinnerungsvermögen
und Phantasietätigkeit,- aber sie künden nichts davon, welch intensives
Interesse das Kind seinem eigenen Körper und dessen Funktionen entgegen*
bringt, wie gerade hiefür die ersten Wortbildungen auftreten und wie die
Phantasie ihre Flügel regt, wenn das Kind auf die Frage nach der Her*
 
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