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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 1.1912

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I.3
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Hug-Hellmuth, Hermine von; Reik, Theodor: Vom wahren Wesen der Kinderseele, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.42094#0294

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286

Vom wahren Wesen der Kinderseele.

kunft der Kinder gestoßen ist. So entbehren fast alle Schriften über die
Kinderseele jenes Gebietes, das im realen Leben gerade den breitesten
Raum beansprucht und das dem Kinde die Bezeichnung »aufgeweckt«,
»frühreif« einträgt. Diese tiefsten Regungen der Kinderseele verraten sich
der Außenwelt durch jene entzückenden Raketen des kindlichen Geistes,
für die wir kein besser Wort kennen als »Kindermund«,- sie sind die
Offenbarungen des Genies, das in jedem Kinde wohnt, solange es noch
keine Verdrängung kennt, solange ihm Rücksichtnahme und Verstellung
ebenso fremd sind wie Scham und Ekel. Daß aber solche Gedanken wie
leuchtende Fäden des Kindes ganzes Tagewerk, sein Spiel, durchziehen,
können wir leicht erkennen, sobald wir uns nur Mühe geben, seinem
Treiben weniger Einhalt zu tun, als dies gemeiniglich Gepflogenheit ist. In
dem Spiel des Kindes spiegelt sich das Milieu, in dem es aufwächst, bald
nur in zarten LImrissen, bald grotesk verzerrt durch die naive Auffassung
der infantilen Psyche. Wie sich das Kind jedes Vorkommnisses in seiner
LImgebung bemächtigt, wie seine Phantasie es ausschmückt, sein Gefühls*
leben dazu Stellung nimmt, das sollen in den vorliegenden Blättern Wort
und Handlung des Kindes selbst erweisen. In diesen Aufzeichnungen möge
die Kinderseele unverhüllt vor den Leser treten, daß er ihr wahres Wesen
erschaue und begreife!
Bei der Beobachtung der Reaktion des infantilen Geistes und Gemütes
auf die LImwelt werden sich aber nicht nur wertvolle Beziehungen zum
Seelenleben des erwachsenen Individuums ergeben, sondern auch zur Kind*
heit der Völkerseele, ihrer Vorstellung von Gott und Welt und ihrem
Vermächtnisse an die Nachwelt, ihrem Märchen* nnd Sagenschatz.
Lind noch einen Gewinn erhoffen wir von dem in die Tiefe schürfen*
den Studium der Kinderseele. Es soll dazu beitragen, den Vorwurf zu
entkräften, der oft gegen die Psychoanalyse erhoben wird, sie trage künstlich und
suggestiv Beziehungen in das psychische Geschehen, die dem Kinde, wenig*
stens dem normalen, fremd seien. Die unentstellte Wiedergabe der Äuße*
rungen der infantilen Seele wird die LInhaltbarkeit jener Einwände besser
bezeugen, als die geistvollste Theorie es imstande ist.
Und vielleicht wird auf diesen neuen Bahnen das Ziel erreicht, das
vor mehr denn 100 Jahren der schottische Philosoph Th. Reid in der Ein*
leitung zu seiner Abhandlung »An inquiry into the human mind on the
principle of common sense« als das vornehmste aller philosophischen Be*
trachtungen bezeichnet: »Wenn es möglich wäre, von allem, was in der
Seele des Kindes vor sich gegangen ist — vom Anfänge seines Lebens
und seiner Empfindungen bis zum Gebrauche seiner Vernunft eine klare
und vollständige Geschichte zu erhalten, eine Geschichte, aus der wir er*
fahren würden, wie unsere wachsenden Fähigkeiten tätig sind, wie sie alle
Begriffe und alle Gefühle erzeugen und entwidceln, die wir im Alter der
Reflexion vorfinden, so wäre das eine Errungenschaft für die Natur*
geschichte, die wahrsdheinlidi mehr Licht über die Fähigkeiten des Menschen
verbreiten würde, als alle Systeme der Philosophen, die je über diesen
Gegenstand geschrieben haben.« Dr. H. v. Hug*Hellmuth,

DAS KIND LIND SEINE VORSTELLUNG VOM TODE.
Es gibt in der Fülle der Erscheinungen des menschlichen Lebens
keine, die nicht audi dem Kinde bedeutsam würde. Insbesondere sind An*
fang und Ende des Lebens, Eintritt und LIingang des Einzelnen die nie
 
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