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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 1.1912

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Winterstein, Alfred von: Zur Psychoanalyse des Reisens
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https://doi.org/10.11588/diglit.42094#0499

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Zur Psychoanalyse des Reisens

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Zur Psychoanalyse des Reisens.
Von Dr. Alfr. Frh. v. WINTERSTEIN.
Die Psychoanalyse bewährt ihre Bedeutung als heuristische
Methode wohl am besten dadurch, daß es ihr mit Erfolg
gelingt, seelische Phänomene der verschiedensten Art, die
scheinbar nicht die geringste Beziehung zur Tiefenpsychologie haben,
in ihrer stets identischen psychosexueilen Determiniertheit zu erkennen.
Von dem speziellen Bereich der Hysterieforschung ausgehend, hat
diese junge Wissenschaft Radien nach den mannigfaltigsten
Wissensgebieten — ich nenne blöß Moral, Pädagogik, Mythologie,
Sprachwissenschaft, Kunstpsychologie, Soziologie, Kriminalistik und
Religionspsychologie — gezogen,- sie hat — um noch Einiges zur
Charakteristik ihrer Universalität anzuführen — einen Zusammen-
hang zwischen einer bestimmten Gruppe von Charakterzügen und
einer gewissen Art der Erotik hergestellt und dadurch einer zu-
künftigen Charakterologie die fruchtbarsten Impulse gegeben, sie hat
ferner nachgewiesen, wie sehr die Berufswahl oder die Wahl wissen-
schaftlicher Untersuchungen durch unbewußte Komplexe bestimmt
wird. Nicht zu ihren geringsten Ruhmestiteln gehört es endlich, ge-
wisse Stimmungen, die sich rational nicht gut rechtfertigen lassen
und deren Erklärung uns die Psychologie bisher schuldig geblieben
ist, durch das Unbewußte motiviert zu haben.
Wer von uns hätte nicht schon — besonders im Frühjahre*
oder Herbst — den unbezwinglidhen Trieb zu reisen verspürt, wo«
bei er für seine Reise eine ganze Reihe von scheinbar einleuchtenden
Gründen aufzuzählen wußte! Daß seine Reiselust in sehr vielen
Fällen mit seinem Liebesieben in Verbindung steht, daß eine solche
Reise, die spontan, ohne rechte äußere Veranlassung unternommen
wird, oft nur eine Reise nach — Cythere ist, hätte er schwerlich
geglaubt, wenn auch diese Tatsache schon bisweilen irgendwie dunkel
erkannt worden war** ***. Es sind in erster Linie die Dichter, die den
richtigen Zusammenhang geahnt und so auch diesmal der Psycho-
analyse vorgearbeitet haben, obgleich sie sich zumeist damit
begnügten, anstatt der ursächlichen Verknüpfung das regelmäßige
Miteinandervorkommen von Erotik und Reise aufzuzeigen. Der
vielgereiste Odysseus**" erlebt ein Liebesabenteuer nach dem andern,
* »Und da nun der Frühling herankam, so erwachte auf einmal eine
sonderbare Begierde zum Reisen in ihm, die er bis dahin noch nie in dem Grade
empfunden hatte « <K. Pb. Moritz : Anton Reiser, S. 318, Leipzig, Reclam).
** Die weitverbreitete Freude an Reiseromanen bezieht vielleicht einen
starken affektiven Beitrag aus dieser erotischen Quelle. ~ Durch Herrn Dr. Th.
Reik werde ich auf die antike Sekte der Paternianer aufmerksam gemacht, die ge^
wisse geistige Eigenschaften an bestimmten Körperstellen lokalisierten,- so be-
zeichneten sie den Unterleib nicht nur als Sitz der Sexuallust, sondern auch der Lust
zum Reisen.
*** Kurz vor Durchsicht der Korrekturbogen gelangte der zweite Teil der
Arbeit von C. G. Jung »Wandlungen und Symbole der Libido« (Jahrbuch f.
 
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