Die Ursache der Farbenbegleitung etc.
265
Die Ursache der Farbenbegleitung
bei akustischen "Wahrnehmungen und das Wesen
anderer Synästhesieen ®.
Von Dr. OSKAR PFISTER, Zürich.
Unter Synästhesie versteht man die weitverbreitete Erscheinung,
daß beim Eintritt einer Sinneswahrnehmung eine einem andern
Sinnesgebiet angehörige Empfindung ohne Reizung des zugehö-
rigen Endapparates ausgelöst wird. Das bekannteste Beispiel ist wohl
die audition coloree (Synopsie), die darin besteht, daß ein wahrge-
nommener Schall, ein Geräusch, Ton, Buchstabe, Wort usw. ohne-
weiters von einer Farbenempfindung begleitet wird, also etwa e
von rot, die Zahl 5 von grün, die Melodie »Seid umschlungen,
Millionen« von weiß und rot. Man gebraucht den Ausdruck »Syn^
ästhesie« aber auch in einem weiteren Sinne : Statt einer Sinnes^
Wahrnehmung kann eine Vorstellung die sekundäre Empfindung
hervorrufen, oder die letztere kann zu einer bloßen schwachen Er-
innerung verblassen, während sie oft geradezu Zwangscharakter
innehat.
Aus der gewaltigen Literatur, die sich mit dem Rätsel der
Synästhesie befaßt — schon 1892 zählte ein amerikanischer Psycho^
log 85 Nummern™! hebe ich nur zwei besonders wichtige Werke
hervor. 1881 gaben zwei Kandidaten der Medizin, Eugen B 1 e u 1 e r
und Karl Lehmann, eine bedeutende, auf sorgfältigen Beob^
achtungen fußende und scharfsinnig ausgearbeitete Schrift heraus
unter dem Titel: »Zwangsmäßige Lichtempfindungen durch Schall
und verwandte Erscheinungen« (Leipzig 1881, 96 S.>. Es lag den
Verfassern zunächst daran, die damals noch wenig bekannten Tat-
sachen festzustellen. Auf Erklärungsversuche ließen sie sich mit Recht
nicht ein.
Zwölf Jahre später erschien aus der Feder des Genfer Ex-
perämentalpsychologen Th. Flournoy ein Buch, dessen Über^
schrill: lautete: »Des Phenomenes de Synopsie (audition coloree,
photismes — schemes visuels — personnifications) (Paris et Geneve,
1893). Der Autor sucht die Ursachen der Synopsieen mit der ihm
eigentümlichen Umsicht auf und glaubt sie nach den Prinzipien der
affektiven, habituellen und privilegierten Assoziation zu finden. Doch
kann er — abgesehen von einigen bescheidenen Versuchen —- weder
die einzelne audition coloree aus ihren konkreten Entstehungs-
Anmerkung der Redaktion: Die Autoren dieser und der vorstehenden
Arbeit wandten sich, ohne von einander zu wissen, der Untersuchung desselben
Problems zu. Ohne irgend eine andere Gemeinsamkeit als die Beziehung zur Psycho-
Analyse, sind die beiden zu völlig gleichen Resultaten gelangt. Diese merkwürdige
Übereinstimmung hat uns veranlaßt, die beiden Beiträge nebeneinander zur Kenntnis
unserer Leser zu bringen.
*® Flournoy, »Des Phenomenes de Synopsie'«, 3.
265
Die Ursache der Farbenbegleitung
bei akustischen "Wahrnehmungen und das Wesen
anderer Synästhesieen ®.
Von Dr. OSKAR PFISTER, Zürich.
Unter Synästhesie versteht man die weitverbreitete Erscheinung,
daß beim Eintritt einer Sinneswahrnehmung eine einem andern
Sinnesgebiet angehörige Empfindung ohne Reizung des zugehö-
rigen Endapparates ausgelöst wird. Das bekannteste Beispiel ist wohl
die audition coloree (Synopsie), die darin besteht, daß ein wahrge-
nommener Schall, ein Geräusch, Ton, Buchstabe, Wort usw. ohne-
weiters von einer Farbenempfindung begleitet wird, also etwa e
von rot, die Zahl 5 von grün, die Melodie »Seid umschlungen,
Millionen« von weiß und rot. Man gebraucht den Ausdruck »Syn^
ästhesie« aber auch in einem weiteren Sinne : Statt einer Sinnes^
Wahrnehmung kann eine Vorstellung die sekundäre Empfindung
hervorrufen, oder die letztere kann zu einer bloßen schwachen Er-
innerung verblassen, während sie oft geradezu Zwangscharakter
innehat.
Aus der gewaltigen Literatur, die sich mit dem Rätsel der
Synästhesie befaßt — schon 1892 zählte ein amerikanischer Psycho^
log 85 Nummern™! hebe ich nur zwei besonders wichtige Werke
hervor. 1881 gaben zwei Kandidaten der Medizin, Eugen B 1 e u 1 e r
und Karl Lehmann, eine bedeutende, auf sorgfältigen Beob^
achtungen fußende und scharfsinnig ausgearbeitete Schrift heraus
unter dem Titel: »Zwangsmäßige Lichtempfindungen durch Schall
und verwandte Erscheinungen« (Leipzig 1881, 96 S.>. Es lag den
Verfassern zunächst daran, die damals noch wenig bekannten Tat-
sachen festzustellen. Auf Erklärungsversuche ließen sie sich mit Recht
nicht ein.
Zwölf Jahre später erschien aus der Feder des Genfer Ex-
perämentalpsychologen Th. Flournoy ein Buch, dessen Über^
schrill: lautete: »Des Phenomenes de Synopsie (audition coloree,
photismes — schemes visuels — personnifications) (Paris et Geneve,
1893). Der Autor sucht die Ursachen der Synopsieen mit der ihm
eigentümlichen Umsicht auf und glaubt sie nach den Prinzipien der
affektiven, habituellen und privilegierten Assoziation zu finden. Doch
kann er — abgesehen von einigen bescheidenen Versuchen —- weder
die einzelne audition coloree aus ihren konkreten Entstehungs-
Anmerkung der Redaktion: Die Autoren dieser und der vorstehenden
Arbeit wandten sich, ohne von einander zu wissen, der Untersuchung desselben
Problems zu. Ohne irgend eine andere Gemeinsamkeit als die Beziehung zur Psycho-
Analyse, sind die beiden zu völlig gleichen Resultaten gelangt. Diese merkwürdige
Übereinstimmung hat uns veranlaßt, die beiden Beiträge nebeneinander zur Kenntnis
unserer Leser zu bringen.
*® Flournoy, »Des Phenomenes de Synopsie'«, 3.