Die Bedeutung des Salzes in Sitte und Brauch der Völker
361
Die Bedeutung des Salzes in Sitte und Brauch
der Völker.
Von Professor Dr. ERNEST JONES, Toronto.
(Mitte September 1911.)
Im Verlaufe einiger höchst anregender Bemerkungen über den
Aberglauben schreibt Freud1: »Ich nehme nun an, daß diese
bewußte Unkenntnis und unbewußte Kenntnis von der Natur
der psychischen Zufälligkeiten eine der psychischen Wurzeln des
Aberglaubens ist.« Er stellt den allgemeinen Grundsatz auf, daß die
unrichtige Bedeutung, die von den Abergläubischen zufälligen äußeren
Ereignissen beigelegt wird, sich aus der assoziativen Verbindung
erklärt, die zwischen diesen Ereignissen und wichtigen Gedanken
und Trieben im Unbewußten des betreffenden Menschen besteht,
daß sie eine Projektion der Bedeutung darstellt, die in Wirklichkeit
den unbewußten Gedanken zukommt ,• das Gefühl der Bedeutsamkeit
ist also vollständig gerechtfertigt, aber es wurde in eine falsche Ver-
knüpfung gebracht. Der Zweck der vorliegenden Abhandlung ist, im
Lichte dieser Hypothesen einen der bekanntesten und verbreitetsten
Aberglauben zu prüfen, daß es nämlich Unglück bringe, Salz auf
dem Tisch zu verschütten.
Dabei werde ich mich bemühen, nur die induktive Methode
anzuwenden, d. h. Hypothesen nur aufzustellen, wenn sie als
berechtigte Schlüsse aus vorher festgestellten Tatsachen erscheinen,
und sie dann daraufhin zu prüfen, ob sie imstande sind, den
gesamten Umfang des zugänglichen Materials zu erklären.
Zwei wichtige Tatsachen müssen zu Beginn erwähnt werden:
zunächst, daß man zu allen Zeiten dem Salz eine Bedeutung zu-
schrieb, die diejenige seiner natürlichen Eigenschaften weit übertraf:
Homer schildert es als göttlichen Stoff, Plato schreibt, daß es den
Göttern besonders wert sei2, und wir werden sogleich seine große
Wichtigkeit bei religiösen Zeremonien, Verträgen und magischem
Zauber kennen lernen. Daß dies in allen Teilen der Welt und zu
allen Zeiten der Fall war, zeigt, daß wir es hier mit einer allge-
mein menschlichen Neigung zu tun haben und nicht mit einem
lokalen Brauch, einem Zufall oder einem unwesentlichen Zug.
Ferner entlehnte man dem Salzbegriff in den verschiedenen Sprachen
einen bemerkenswerten Überfluß metaphorischer Bedeutungen,
deren Studium erkennen lassen wird, wofür der Begriff tatsächlich
im menschlichen Geist stand, und dadurch die Quelle seiner über-
großen Bedeutung erklären kann.
Wir wollen zunächst die wichtigsten charakteristischen Eigen-
schaften des Salzes in Betracht ziehen, die sich den Gedanken des
Volkes eingeprägt haben und so mit allgemeineren Vorstellungen ven-
1 Freud, Zur Psychopathologie des Alltagsleben. Dritte Auflage. 1910. S. 134.
2 Plutardi, Morals. Goodwins English Edition. 1870. Vol. II. Pag. 338.
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Die Bedeutung des Salzes in Sitte und Brauch
der Völker.
Von Professor Dr. ERNEST JONES, Toronto.
(Mitte September 1911.)
Im Verlaufe einiger höchst anregender Bemerkungen über den
Aberglauben schreibt Freud1: »Ich nehme nun an, daß diese
bewußte Unkenntnis und unbewußte Kenntnis von der Natur
der psychischen Zufälligkeiten eine der psychischen Wurzeln des
Aberglaubens ist.« Er stellt den allgemeinen Grundsatz auf, daß die
unrichtige Bedeutung, die von den Abergläubischen zufälligen äußeren
Ereignissen beigelegt wird, sich aus der assoziativen Verbindung
erklärt, die zwischen diesen Ereignissen und wichtigen Gedanken
und Trieben im Unbewußten des betreffenden Menschen besteht,
daß sie eine Projektion der Bedeutung darstellt, die in Wirklichkeit
den unbewußten Gedanken zukommt ,• das Gefühl der Bedeutsamkeit
ist also vollständig gerechtfertigt, aber es wurde in eine falsche Ver-
knüpfung gebracht. Der Zweck der vorliegenden Abhandlung ist, im
Lichte dieser Hypothesen einen der bekanntesten und verbreitetsten
Aberglauben zu prüfen, daß es nämlich Unglück bringe, Salz auf
dem Tisch zu verschütten.
Dabei werde ich mich bemühen, nur die induktive Methode
anzuwenden, d. h. Hypothesen nur aufzustellen, wenn sie als
berechtigte Schlüsse aus vorher festgestellten Tatsachen erscheinen,
und sie dann daraufhin zu prüfen, ob sie imstande sind, den
gesamten Umfang des zugänglichen Materials zu erklären.
Zwei wichtige Tatsachen müssen zu Beginn erwähnt werden:
zunächst, daß man zu allen Zeiten dem Salz eine Bedeutung zu-
schrieb, die diejenige seiner natürlichen Eigenschaften weit übertraf:
Homer schildert es als göttlichen Stoff, Plato schreibt, daß es den
Göttern besonders wert sei2, und wir werden sogleich seine große
Wichtigkeit bei religiösen Zeremonien, Verträgen und magischem
Zauber kennen lernen. Daß dies in allen Teilen der Welt und zu
allen Zeiten der Fall war, zeigt, daß wir es hier mit einer allge-
mein menschlichen Neigung zu tun haben und nicht mit einem
lokalen Brauch, einem Zufall oder einem unwesentlichen Zug.
Ferner entlehnte man dem Salzbegriff in den verschiedenen Sprachen
einen bemerkenswerten Überfluß metaphorischer Bedeutungen,
deren Studium erkennen lassen wird, wofür der Begriff tatsächlich
im menschlichen Geist stand, und dadurch die Quelle seiner über-
großen Bedeutung erklären kann.
Wir wollen zunächst die wichtigsten charakteristischen Eigen-
schaften des Salzes in Betracht ziehen, die sich den Gedanken des
Volkes eingeprägt haben und so mit allgemeineren Vorstellungen ven-
1 Freud, Zur Psychopathologie des Alltagsleben. Dritte Auflage. 1910. S. 134.
2 Plutardi, Morals. Goodwins English Edition. 1870. Vol. II. Pag. 338.