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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 1.1912

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I.5
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Hárnik, Jenö: Psychoanalytisches aus und über Goethes "Wahlverwandtschaften"
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https://doi.org/10.11588/diglit.42094#0518

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508

J. Härnik

Umgekehrt werden wir geneigt sein, anzunehmen, daß die
Liebe eines reiferen Mannes dem jungen Mädchen einen Ersatz für
die Liebe des Vaters bedeutet, daß sich bei ihr die Objektwahl —
mit dem guten Worte Jungs gesprochen — nach der infantilen
Vater-Imago richtet.
Daß die Geschehnisse der »Wahlverwandtschaften« von dieser
infantilen Einstellung ausgehen, darauf weist schon der LImstand
hin, daß Ottilie das Pflegekind von Eduard und seiner Frau,
Charlotten, ist, und sich als solches in ihrem Hause aufhält. Nun
bringt uns aber Goethe auch eine sehr schöne direkte Bestätigung
dieser psychoanalytischen Auffassung in einer Reihe von symbolischen
Symptomhandlungen*.
Es geschieht bei einem einsamen Spaziergang. »Sie entschlossen
sich kurz und gut, über Moos und Felstrümmer hinabzusteigen:
Eduard voran,- und wenn er nun in die Höhe sah und Ottilie,
leicht schreitend, ohne Furcht und Ängstlichkeit, im schönsten Gleich^
gewicht von Stein zu Stein ihm folgte, glaubte er ein himmlisches
Wesen zu sehen, das über ihn schwebte. Lind wenn sie nun
manchmal an unsicherer Stelle seine ausgestreckte Hand ergriff, ja
sich auf seine Schulter stützte, dann konnte er sich nicht verleugnen,
daß es das zarteste weibliche Wesen sei, das ihn berührte. Fast
hätte er gewünscht, sie möchte straucheln, gleiten, daß er sie in
seine Arme auffangen, sie an sein Herz drüdcen könnte. Doch dies
hätte er unter keiner Bedingung getan, aus mehr als einer Ursache:
er fürchtete sie zu beleidigen, sie zu beschädigen«.
Wie dies gemeint sei, erfahren wir sogleich. »Denn als er nun
herabgelangt, ihr unter den hohen Bäumen am ländlichen Tische
gegenübersaß . . . ., fing Eduard mit einigem Zaudern zu sprechen an.
»Ich habe eine Bitte, liebe Ottilie: verzeihen Sie mir die, wenn
Sie mir sie auch versagen. Sie machen kein Geheimnis daraus, und
es braucht es auch nicht, daß Sie unter Ihrem Gewand, auf Ihrer
Brust ein Miniaturbild tragen. Es ist das Bild Ihres Vaters, des
braven Mannes, den Sie kaum gekannt und der in jedem Sinne
eine Stelle an Ihrem Herzen verdient. Aber vergeben Sie mir: das
Bild ist ungeschidct groß, und dieses Metall, dieses Glas macht mir
tausend Ängsten, wenn Sie ein Kind in die Höhe heben, etwas
vor sich hintragen, wenn die Kutsche schwankt, wenn wir durchs
Gebüsch dringen, eben jetzt, wie wir vom Felsen herabsteigen. Mir
ist die Möglichkeit schreddidh, daß irgend ein unvorhergesehener
Stoß, ein Fall, eine Berührung Ihnen schädlich und verderblich sein
könnte. Tun Sie es mir zuliebe, entfernen Sie das Bild, nicht aus
Ihrem Andenken, nicht aus Ihrem Zimmer,- ja geben Sie ihm den
* Die Symptomhandlungen bringen nach Freud »etwas zum Ausdruck,
was der Täter selbst nicht in ihnen vermutet, und was er in der Regel nicht mit-
zuteilen, sondern für sich zu behalten beabsichtigt. Sie spielen also .... die Rolle
von Symptomen«. »Zur Psychopathologie des Alltagslebens«, 3. Auf!., 1910,
pag. 105.
 
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