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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 1.1912

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209

STEPHAN ZWEIG, »Erstes Erlebnis. Vier Geschichten aus Kinder-
land.« Leipzig 1911, Inselverlag.
Die Novellensammlung von Stephan Zweig ist eine der psychologisch
wichtigsten Dichtungen, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Vor
diesem erschütternden und nachhaltigen Eindruck verblassen wertvollste
Bücher, welche Kinderpsychologie künstlerisch formten: Manns »Budden*
brooks«, Hesses7 »Peter Camenzind« und »Unterm Rad«, Strauß7 »Freund
Hein« und Musils »Verwirrungen des Zöglings Törless«. Lebten wir
nicht in Deutschland, wo der Erguß des begeisterten Pubertätsidealismus
höher geschätzt wird als die künstlerische Gestaltung feinster und verwickeltster
seelischer Konflikte, würde von diesem Buche eine Reform der Kinderpsycho«
logie in der Kunst ausgehen. Alle Erzählungen schildern das Erwachen der
Geschlechtlichkeit, den Sturm dieser Gefühle, das schmerzvolle Glück der
ersten Enthüllung und das fürchterliche Grauen vor diesem Geheimnis in
der Kinderseele. Von den vier Novellen, welche der Band umschließt, möchte
ich zwei als die psychologisch wertvollsten und interessantesten herausholen.
Die erste heißt »Die Gouvernante.« Zwei kleine Mädchen erfahren zufällig,
daß ihre Gouvernante ein Kind bekommt. Ich muß diese kleine Szene,
die jeden Psychoanalytiker durch ihre Wahrheit erfreuen wird, hierher-
setzen.
»Die Jüngere starrt ganz verstört vor sich hin, ,Ein Kind! Das ist
doch unmöglich. Wo soll sie denn das Kind haben?7
,Ich weiß nicht. Das ist es ja, was ich nicht verstehe.7
,Vielleicht zu Hause wo .... bevor sie zu uns herkam. Mama hat
ihr natürlich nicht erlaubt, es mitzubringen, wegen uns. Darum ist sie auch
so traurig.7
,Aber geh, damals hat sie doch Otto noch gar nicht gekannt!7
Sie schweigen wieder, ratlos, unschlüssig herumgrübelnd. Der Gedanke
peinigt sie. Und wieder fängt die Kleinere an: ,Ein Kind, das ist ganz un-
möglich. Wieso kann sie ein Kind haben? Sie ist doch nicht verheiratet
und nur verheiratete Leute haben Kinder, das weiß ich.7
/Vielleicht war sie verheiratet.7
,Aber sei doch nicht so dumm. Doch nicht mit Otto.7
,Aber wieso . ,?7 Ratlos starren sie sich an.
,Das arme Fräulein7, sagt die eine ganz traurig. Es kommt immer
wieder dieses Wort, ausklingend in einen Seufzer des Mitleids. Und immer
wieder flackert die Neugierde dazwischen.
,Ob es ein Mädchen ist oder ein Bub?7
,Wer kann das wissen.7
,Was glaubst du . . . wenn ich sie einmal fragen würde . . . ganz,
ganz vorsichtig . . ,7
,Du bist verrückt!7
,Warum ... sie ist doch so gut zu uns.7
,Aber was fällt dir ein! Uns sagt man doch solche Sachen nicht. Lins
verschweigt man alles.7
,Weiß du . . . was ich eigentlich am wenigsten verstehe, ist, daß Otto
nichts davon gewußt haben soll. Man weiß doch, daß man ein Kind hat,
so wie man weiß, daß man Eltern hat,7
,Er hat sich nur so gestellt, der Schuft. Er verstellt sich immer.7
,Aber bei so etwas doch nicht. Nur , , . nur . . , wenn er uns etwas
vormachen will,7
Die infantilen Sexualtheorien, die kindliche Sexualneugierde und Lln^
 
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