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Hans Sperber
spreche, der »Kontinuität der Entwicklung, der die Sprache, wie
alles Lebendige unterworfen ist. Zwischen der Wurzelperiode und
der wirklichen Entwicklung der Sprache liegt hier eine Kluft, die .. .
nur durch ein Wunder überbrückt werden kann.«
Wer also, wie ich es tue, mit einer Wurzelperiode als einer
unumgänglich nötigen Voraussetzung unserer flektierenden Sprachen
rechnet, ist genötigt, einen Weg aufzuzeigen, der von den Wurzeln
zur Flexion hinüberführt, und so zu beweisen, daß man ohne die
Annahme eines »Wunders« auskommt.
Die Frage nach der Entstehung der Flexion, des hauptsäch-
lichsten Mittels zur Verbindung der Worte untereinander, hängt
aufs engste mit derjenigen nach der Entstehung des mehrgliedrigen
Satzes zusammen und soll im Folgenden zugleich mit dieser be-
handelt werden.
Nach Paul besteht ein grundlegender Unterschied zwischen
menschlicher und tierischer Sprache darin, daß die erstere Wortver^
bindungen, aus mehreren Worten bestehende Sätze, verwendet,
während die letztere sozusagen nur einwortige Sätze kennt. Man
darf aber nicht meinen, daß die Fähigkeit, mehrgliedrige Sätze zu
bilden, eine qualitative Veränderung und Steigerung des Denkver^
mögens voraussetze. Ob ich den Satz »Der Hund bellt« in dieser
uns geläufigen Form ausdrücke oder ob ich, auf den Hund hin^
zeigend, einfach sage »bellt« — der Gedanke ist in beiden Fällen der
gleiche. Was die sprachlidie Bezeichnung des Subjekts erst nötig macht,
ist vielmehr die Loslösung des sprachlichen Ausdrucks von
der aktuellen Situation. Da nämlich ursprünglich jede Sprachäuße-
rung einen Affekt von gewisser Stärke voraussetzt, muß es eine
Zeit gegeben haben, wo die Sprache nur oder beinahe nur durch
aktuelle Eindrücke, die natürlich den Erinnerungsbildern an Affekt-
betontheit überlegen sind, hervorgerufen wurde,- d. h. sie war nur
des Hinweises auf Vorhandenes, nicht der Erzählung von Ver-
gangenem, fähig. So lange sie aber in dieser Weise an die vor-
handene Situation gebunden war, lag für den Sprechenden kein
Grund vor, dasjenige sprachlich zu bezeichnen, was der Hörende
ohneweiters selbst aus der Situation ergänzen konnte. Das Bedürf-
nis nach der jetzt üblichen zweigliedrigen Form des Satzes, die
Subjekt und Prädikat besonders ausdriidct, kann also erst entstanden
sein, nachdem die Sprache ein gut Teil ihres Charakters als Affekt^
äußerung eingebüßt, den Zusammenhang mit der Aktualität aufge-
geben hatte. Die Tendenz der Sprachentwicklung, die dieses Be-
dürfnis sdiuf, brachte aber zugleich das Mittel zu seiner Befriedigung
hervor. Während nämlich anfänglich heftige Erregungen nötig waren,
um dem bis dahin stummen Tier die ersten Lautäußerungen abzu-
ringen, genügt der geringfügigste Anlaß, um den modernen Men-
sehen zum Reden zu bringen, meist ohne daß er die Spur eines
Affektes verrät. Mit diesem fortwährenden Schwächerwerden des
zur Sprachäußerung nötigen Anstoßes hängt, wie sdron angedeutet.
Hans Sperber
spreche, der »Kontinuität der Entwicklung, der die Sprache, wie
alles Lebendige unterworfen ist. Zwischen der Wurzelperiode und
der wirklichen Entwicklung der Sprache liegt hier eine Kluft, die .. .
nur durch ein Wunder überbrückt werden kann.«
Wer also, wie ich es tue, mit einer Wurzelperiode als einer
unumgänglich nötigen Voraussetzung unserer flektierenden Sprachen
rechnet, ist genötigt, einen Weg aufzuzeigen, der von den Wurzeln
zur Flexion hinüberführt, und so zu beweisen, daß man ohne die
Annahme eines »Wunders« auskommt.
Die Frage nach der Entstehung der Flexion, des hauptsäch-
lichsten Mittels zur Verbindung der Worte untereinander, hängt
aufs engste mit derjenigen nach der Entstehung des mehrgliedrigen
Satzes zusammen und soll im Folgenden zugleich mit dieser be-
handelt werden.
Nach Paul besteht ein grundlegender Unterschied zwischen
menschlicher und tierischer Sprache darin, daß die erstere Wortver^
bindungen, aus mehreren Worten bestehende Sätze, verwendet,
während die letztere sozusagen nur einwortige Sätze kennt. Man
darf aber nicht meinen, daß die Fähigkeit, mehrgliedrige Sätze zu
bilden, eine qualitative Veränderung und Steigerung des Denkver^
mögens voraussetze. Ob ich den Satz »Der Hund bellt« in dieser
uns geläufigen Form ausdrücke oder ob ich, auf den Hund hin^
zeigend, einfach sage »bellt« — der Gedanke ist in beiden Fällen der
gleiche. Was die sprachlidie Bezeichnung des Subjekts erst nötig macht,
ist vielmehr die Loslösung des sprachlichen Ausdrucks von
der aktuellen Situation. Da nämlich ursprünglich jede Sprachäuße-
rung einen Affekt von gewisser Stärke voraussetzt, muß es eine
Zeit gegeben haben, wo die Sprache nur oder beinahe nur durch
aktuelle Eindrücke, die natürlich den Erinnerungsbildern an Affekt-
betontheit überlegen sind, hervorgerufen wurde,- d. h. sie war nur
des Hinweises auf Vorhandenes, nicht der Erzählung von Ver-
gangenem, fähig. So lange sie aber in dieser Weise an die vor-
handene Situation gebunden war, lag für den Sprechenden kein
Grund vor, dasjenige sprachlich zu bezeichnen, was der Hörende
ohneweiters selbst aus der Situation ergänzen konnte. Das Bedürf-
nis nach der jetzt üblichen zweigliedrigen Form des Satzes, die
Subjekt und Prädikat besonders ausdriidct, kann also erst entstanden
sein, nachdem die Sprache ein gut Teil ihres Charakters als Affekt^
äußerung eingebüßt, den Zusammenhang mit der Aktualität aufge-
geben hatte. Die Tendenz der Sprachentwicklung, die dieses Be-
dürfnis sdiuf, brachte aber zugleich das Mittel zu seiner Befriedigung
hervor. Während nämlich anfänglich heftige Erregungen nötig waren,
um dem bis dahin stummen Tier die ersten Lautäußerungen abzu-
ringen, genügt der geringfügigste Anlaß, um den modernen Men-
sehen zum Reden zu bringen, meist ohne daß er die Spur eines
Affektes verrät. Mit diesem fortwährenden Schwächerwerden des
zur Sprachäußerung nötigen Anstoßes hängt, wie sdron angedeutet.