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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 1.1912

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I.5
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Sperber, Hans: Über den Einfluß sexueller Momente auf Entstehung und Entwicklung der Sprache
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https://doi.org/10.11588/diglit.42094#0463

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Über den sexuellen Ursprung der Sprache

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ihr bereits gelungen —, dann werden die Gegendienste von seiten
der Kulturhistoriker nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Ich fasse also den Inhalt des Gesagten kurz zusammen: Als
älteste Sprachäußerung ist der Lockruf zu betrachten. Die Ent-
stehung der Wurzeln, mit denen verschiedene Tätigkeiten bezeichnet
werden, ist durch die sexuelle Betontheit verschiedener Arbeits«
methoden zu erklären. Die Annahme einer Wurzelperiode ist
unumgänglich nötig. Die Wurzeln hatten in erster Linie verbalen
Charakter. Der Übergang von der Wurzelperiode zur Periode der
flektierenden Sprachen wird durch Beschleunigung des Sprechtempos
ermöglicht. Die Annahme, daß alle Sprachwurzeln anfänglich Be-
ziehungen zu sexuellen Begriffen hatten, wird dadurch erleichtert,
daß sich die große bedeutungsgeschichtliche Rolle dieser Begriffe
sprachhistorisch nachweisen läßt. Wortstämme mit sexueller Bedeutung
zeigen im Germanischen die Tendenz, ein oft wiederkehrendes
»Bedeutungssystem« zu entwickeln. Als Urbedeutungen von Sprach«
wurzeln können nur affektbetonte Begriffe gelten.
Wer neue Theorien aufstellt, pflegt nur allzuleicht die Trag«
weite derselben zu überschätzen, indem er konkurrierende Erklärungs«
möglichkeiten übersieht. Um diesen Fehler nach Möglichkeit zu ver«
meiden, muß ich nun zum Schluß die Frage aufwerfen: sind wir
wirklich genötigt, die Entstehung aller Sprachwurzeln so zu erklären,
wie dies oben geschehen ist — also erst Lockruf, dann lockrufartige
Begleiterscheinungen der Arbeit? Nach reiflichem Nachdenken über
diese Frage glaube ich folgendes sagen zu können: Der Schluß, daß
der Lockruf die erste Sprachäußerung gewesen sei, scheint mir
zwingend,- die Anknüpfung der Weiterentwicklung der menschlichen
Sprache an die sexuell betonten Arbeitsmethoden wird dadurch
wahrscheinlich, daß sie meines Erachtens die historischen Zustände
besser erklärt, als die älteren Hypothesen. Daß jedoch in der
menschlichen Sprache auch Elemente enthalten sein können, die auf
anderen Wegen aus dem Lockruf hervorgegangen sind, diese Mög«
lichkeit beweisen ja z. B. die Warnungsrufe mancher Tiere, auf die
natürlich die Werkzeugstheorie nicht angewandt werden kann. Und
schließlich könnten uns vielleicht eingehende Untersuchungen über
das Wesen der Lautnachahmung (Onomatopöie) zu Modifikationen
der hier aufgestellten Ansichten zwingen.
Es sind also gewiß Umstände denkbar, die das Geltungs«
gebiet meiner Hypothesen einschränken könnten. Vorläufig aber
spricht nichts dafür, daß wir diesen Möglichkeiten Wahrscheinlichkeits«
wert zuzuerkennen hätten, und so lange dies nicht der Fall ist, darf
ich mir wohl mit der Hoffnung schmeicheln, daß der in der vor«
liegenden Arbeit eingeschlagene Weg der richtige ist.

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