Zur Psychoanalyse des Reisens
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Stekel* erblickt in den Reisen der Neurotiker meist ein
Kompromiß zwischen den Befreiungstendenzen aus den Banden der
Neurose und erotischen Zielen,- Ferenczi** äußert sich, wie folgt :
»Ortsveränderung wirkt meist günstig, weil die Patienten dadurch
aus dem für sie differenten Milieu flüchten (Nachahmung des Ver-
drängungsmechanismus). Der Rückfall stellt sich beim ersten Kon-
flikt zu Hause wieder ein.« Es mag sein, daß der Ratschlag, den
viele Ärzte bei sogenannten Gemütskrankheiten geben, zu reisen,
der unklaren Erkenntnis des Zusammenhanges zwischen Neurose
und unzweckmäßiger Fixierung der Libido entspringt. Freilich treibt
Heimweh die Kranken oft bald wieder nach Hause***. Heimweh —
wenigstens in pathologischer Stärke — bedeutet wohl soviel wie
die Unfähigkeit, seine Libido von der gewohnten Umgebung abzu^
trennen, und weist häufig auf eine übermäßig innige Fixierung bei
den eigenen Eltern (oder deren Surrogaten) hin. Die Liebe zur
Vaterstadt und zum Vaterland ist ja, wie uns die Psychoanalyse
gezeigt hat, identisch mit der Liebe zu den eigenen Eitern. Lind
die spontane Flucht des Deserteurs — im Gegensatz zum Vorher-
gehenden eventuell aus der feindlichen Einstellung dem Vater gegen-
über entspringend — ist bisweilen nur eine Wiederholung des Voi>
gehens, das der Flüditling in seiner Kindheit gegenüber dem Vater
oft genug an den Tag gelegt haben mag. Vielleicht birgt sich auch
manchmal dahinter die infantile, aus Analysen bekannt gewordene
Phantasie, mit der Mutter dem Vater zu entfliehenL Dem plötz^
liehen Entschluß jugendlicher Individuen, in ein unbekanntes Land
(Amerika !> zu reisen, liegt zumeist der ehrgeizige, durch Lektüre
angefachte Wunsch nach Abtrennung von der väterlichen Autorität
zugrunde. Wir widerstehen an dieser Stelle der Verlockung, weitere
* Stekel: Was am Grund der Seele ruht. Verlag P. Knepler, 1900.
(Kapitel: »Weshalb sie reisen«.)
** Ferenczi, Über Psychoneurosen (Autoref.), »Zentralblatt für Psycho-
analyse«, 1. Jahrgang, Heft 1.
*** In vielen Fällen von Flucht sind zwei gegensätzliche Tendenzen enthalten:
die Tendenz zur Ablösung von den Eltern und gleichzeitig die zur Rückkehr
(im Triumph, mit darauffolgender Versöhnung voll Rührung und Zärtlichkeit).
Audh ein sadistisches Moment spielt hinein : der Betreffende will sich an seinen
Eltern rächen, ihnen durch seine Absentierung seelischen Schmerz zufügen. Das
masochistische Gegenstück liegt in der Widerstandslosigkeit des Erschöpften beim
Aufgreifen durch die Eltern, Polizei oder andere Personen.
f Das Umgekehrte findet in Shakespeares »Sturm« statt, wo der Vater
mit der Tochter auf eine Insel flüditet. Der Vater ist solange mit der Tochter
erotisch verknüpft (Vergl. die Worte Calibans im I. Akt: »du kamst mir nur
zuvor«, als Erwiderung auf den Ausspruch Prosperos, des Vaters: »Nahm dich
auf in meinem Zelt', bis du versucht zu schänden die Ehre meines Kindes«), bis
ein Sturm den Jüngling Ferdinand ans Ufer wirft und damit die Ablösung vom
Vater bewirkt. Bezüglich des eifersüchtigen Prosperos, der den Freier seiner Tochter
quält, sei auf die Parallele mit der Griseldafabel hingewiesen. (Vergl. Rank: Der
Sinn der Griseldafabel, »Imago« I., 1.) Der »Sturm« kann als Gegenstück zum
»Hamlet« aufgefaßt werden: in beiden Fällen eine Inzestdichtung, in der einmal
der Vater, einmal der Sohn im Mittelpunkt steht.
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Stekel* erblickt in den Reisen der Neurotiker meist ein
Kompromiß zwischen den Befreiungstendenzen aus den Banden der
Neurose und erotischen Zielen,- Ferenczi** äußert sich, wie folgt :
»Ortsveränderung wirkt meist günstig, weil die Patienten dadurch
aus dem für sie differenten Milieu flüchten (Nachahmung des Ver-
drängungsmechanismus). Der Rückfall stellt sich beim ersten Kon-
flikt zu Hause wieder ein.« Es mag sein, daß der Ratschlag, den
viele Ärzte bei sogenannten Gemütskrankheiten geben, zu reisen,
der unklaren Erkenntnis des Zusammenhanges zwischen Neurose
und unzweckmäßiger Fixierung der Libido entspringt. Freilich treibt
Heimweh die Kranken oft bald wieder nach Hause***. Heimweh —
wenigstens in pathologischer Stärke — bedeutet wohl soviel wie
die Unfähigkeit, seine Libido von der gewohnten Umgebung abzu^
trennen, und weist häufig auf eine übermäßig innige Fixierung bei
den eigenen Eltern (oder deren Surrogaten) hin. Die Liebe zur
Vaterstadt und zum Vaterland ist ja, wie uns die Psychoanalyse
gezeigt hat, identisch mit der Liebe zu den eigenen Eitern. Lind
die spontane Flucht des Deserteurs — im Gegensatz zum Vorher-
gehenden eventuell aus der feindlichen Einstellung dem Vater gegen-
über entspringend — ist bisweilen nur eine Wiederholung des Voi>
gehens, das der Flüditling in seiner Kindheit gegenüber dem Vater
oft genug an den Tag gelegt haben mag. Vielleicht birgt sich auch
manchmal dahinter die infantile, aus Analysen bekannt gewordene
Phantasie, mit der Mutter dem Vater zu entfliehenL Dem plötz^
liehen Entschluß jugendlicher Individuen, in ein unbekanntes Land
(Amerika !> zu reisen, liegt zumeist der ehrgeizige, durch Lektüre
angefachte Wunsch nach Abtrennung von der väterlichen Autorität
zugrunde. Wir widerstehen an dieser Stelle der Verlockung, weitere
* Stekel: Was am Grund der Seele ruht. Verlag P. Knepler, 1900.
(Kapitel: »Weshalb sie reisen«.)
** Ferenczi, Über Psychoneurosen (Autoref.), »Zentralblatt für Psycho-
analyse«, 1. Jahrgang, Heft 1.
*** In vielen Fällen von Flucht sind zwei gegensätzliche Tendenzen enthalten:
die Tendenz zur Ablösung von den Eltern und gleichzeitig die zur Rückkehr
(im Triumph, mit darauffolgender Versöhnung voll Rührung und Zärtlichkeit).
Audh ein sadistisches Moment spielt hinein : der Betreffende will sich an seinen
Eltern rächen, ihnen durch seine Absentierung seelischen Schmerz zufügen. Das
masochistische Gegenstück liegt in der Widerstandslosigkeit des Erschöpften beim
Aufgreifen durch die Eltern, Polizei oder andere Personen.
f Das Umgekehrte findet in Shakespeares »Sturm« statt, wo der Vater
mit der Tochter auf eine Insel flüditet. Der Vater ist solange mit der Tochter
erotisch verknüpft (Vergl. die Worte Calibans im I. Akt: »du kamst mir nur
zuvor«, als Erwiderung auf den Ausspruch Prosperos, des Vaters: »Nahm dich
auf in meinem Zelt', bis du versucht zu schänden die Ehre meines Kindes«), bis
ein Sturm den Jüngling Ferdinand ans Ufer wirft und damit die Ablösung vom
Vater bewirkt. Bezüglich des eifersüchtigen Prosperos, der den Freier seiner Tochter
quält, sei auf die Parallele mit der Griseldafabel hingewiesen. (Vergl. Rank: Der
Sinn der Griseldafabel, »Imago« I., 1.) Der »Sturm« kann als Gegenstück zum
»Hamlet« aufgefaßt werden: in beiden Fällen eine Inzestdichtung, in der einmal
der Vater, einmal der Sohn im Mittelpunkt steht.