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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 9.1923

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Heft 4
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Osipov, Nikolaj E.: Über Leo Tolstois Seelenleiden: (Autorenreferat eines Vortrags, gehalten am 17. Juni 1922 in der Tschechischen Medizinischen Gesellschaft in Prag)
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https://doi.org/10.11588/diglit.28544#0507

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UBER LEO TOLSTOIS SEELENLEIDEN
(Autoreferat eines Vortrages,gehalten am ly.Juni 1922 in der Tschechischen Medizinischen
Gesellschaft in Prag)
Von N. OSSIPOW
Zur Beurteilung des Seelenzustandes von Leo Tolstoi können, außer bio-
graphischen Daten, auch alle seine Schriften dienen, weil alle Schriften von
Tolstoi eine Selbstanalyse und sogar in mancher Beziehung eine Psychoanalyse
im Freudschen Sinne darstellen. In seiner tiefgreifenden Selbstanalyse bemerkte
Tolstoi selbst einige psychopathische Züge seiner Persönlichkeit. Einige andere
entgingen seiner Aufmerksamkeit und mußten dies auch naturgemäß.
In der Erzählung „Knabenalter" ist der Seelenkonflikt des vierzehnjährigen
beschrieben. Der Knabe wünschte inten siv den sexuellen Verkehr mit demZimmer-
mädchen und konnte es doch nicht zustande bringen; sein Verlangen wurde
durch Scham gehemmt. Für das Verständnis des Seelenkonfliktes reicht die
Annahme von zwei gegeneinandergerichteten Aktivitäten — des Sexualtriebes
und der Schamhaftigkeit oder, um es allgemein auszudrücken, der Moral —
nicht aus. Notwendigerweise müssen wir noch eine dritte Aktivität annehmen:
die Aktivität des Ichs im engen Sinne dieses Wortes. Es gibt einen schönen Aus-
druck im Tschechischen sowohl wie im Russischen, der in romanische und
germanische Sprachen eigentlich nicht zu übersetzen ist: ,,c/ztz, se wA"
Wörtlich heißt es: „ich will, aber es will in mir nicht." Dieser Ausdruck ver-
birgt in sich ein tiefes psychologisches Problem über die Mehrheit der Wesen in
einem Individuum. Beim vierzehnjährigen Tolstoi kämpften zurZeit des Pubertät-
eintrittes die obenerwähnten drei Aktivitäten miteinander. Auf einer Seite
kämpfte Sexualtrieb -j- Ich-Aktivität, auf der anderen die Moral. Die letzte
blieb Sieger. Tolstoi verzichtete auf den Sexualgenuß und suchte notgedrungen
Befriedigung in den Vergnügungen der „stolzen Einsamkeit". Es wäre aber
irreführend, wenn wir den Sieg der ausschließlichen Stärke der Moralforderungen
 
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