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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 11.1900

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Graevèll, A.: Das Bürgerliche Reihen-Haus, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.6712#0093

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April-Heft.

Illustr. kunstgewerbl. Zeitschrift für Innen-Dekoration.

Seite 67.

das Heimat hgefühl. Dieses Heimathgefühl sprudelt
um so lebendiger in der Brust des Deutschen, je mehr
er in seinem Hause, in seiner Wohnung sich selbst
wieder erkennt. Frei, wie er sich selbst fühlt, schafft
er sich auch seine Umgebung. Da ist nichts Künst-
liches, nichts Gemachtes. Knorrig, wie der starke
Eichbaum, unter dem unsere Urväter ihre Hütte auf-
schlugen, ist auch der Grundkarakter des deutschen
Volkes. Deshalb hasst der Deutsche die »schlottrige
Magerkeit des symmetrischen Geschmacks«, der in
unseren Tagen zur Modekrankheit geworden ist. Was
ist es denn, was uns an den alten Strassen und Plätzen,
an den alten Häusern und Höfen so anmuthet und
anheimelt? Doch nur jene natürliche Ungezwungen-
heit und Unregelmässigkeit, jene Freiheit von aller
Schablone und linearen Symmetrie, die gerade unser
heutiges Wohnen so wenig erfreulich kennzeichnen.

»Unsere protokollartig mit dem Lineal zusammen-
geschnittenen modernen Plätze haben nicht die Spur
von geistigem Inhalt, sondern nur so und so viel
Quadratmeter leere Fläche«, sagt Sitte mit Recht in
seinem »Städtebau«. Sie machen den Eindruck un-
möblirter Zimmer. Unsere endlosen, schnurgeraden
Strassen lassen absolut keinen Lokalpatriotismus auf-
kommen, denn die gerade Linie ist der Widersacher
aller Begeisterung — sie sind nur »Verkehrsadern«,
durch die die Menschen als willenlose Blutkörperchen
fieberhaft dahinsausen oder auch träge weiterschleichen,
je nach der Stimmung des Riesenkörpers »Stadt«.
Und unsere Häuser mit den breiten, glänzenden
Spiegelscheiben im Erdgeschoss und den zahllosen
Handtuch-Fenstern, sie stehen so eintönig und geistlos
da wie Blei-Soldaten, und all ihr äusserlicher Schmuck
und Reichthum täuscht uns nicht hinweg über die
Oede und Armuth, die sich dahinter birgt. Ist es ein
Wunder, wenn wir uns in diesen übereinander-
geschachtelten Kommoden - Kästen, wie Semper sie
genannt hat, niemals so recht wohl fühlen? —
Ein mächtiger Zug nach Wohnungs- Verbesserung
geht augenblicklich durch das deutsche Volk, der sich
zunächst in dem schwer definirbaren Begriff einer
weit empfundenen Wohnungs-Noth erkennbar macht.
So gewaltig ist diese Strömung, dass sie sogar dem Arbeiter
— nicht blos zur menschenwürdigen Wohnung, sondern —
zum eigenen Heim und Haus verhelfen will. Natürlich: in
den unteren Klassen wird das Wohnungs -Elend sichtbar.
Das rührt an unser Gewissen. Aber merkwürdig: dieselben
Leute, die dem Arbeiter ein eigenes Haus verschaffen wollen,
die besitzen zumeist selbst keins, sondern wohnen zur Miethe;
oder wenn sie selbst ein Haus haben, so ist es gewöhnlich
ein Miethhaus, in dem noch 10, 12, 15 andere Familien mit-
wohnen. Ist das nun nicht dasselbe »elende Wohnen« wie
beim Arbeiter? Ist das nicht geradezu Heuchelei?

Seit etwa zwei Jahren bricht sich diese Erkenntniss Bahn
und die Folge ist ein ausserordentliches Zunehmen der j
»Familienhäuser«. Freilich gehen wir dabei, wie in der breiten
Fassadenbau-Weise der Reihen-Häuser, ebenfalls wieder der
französischen Auffassung nach; wir können uns das deutsche
Familien-Wohnhaus kaum anders als die französische frei-
stehende »Villa« vorstellen, wenn wir uns auch in den letzten
zehn Jahren dank dem Einflüsse der altdeutschen Richtung
in der Innen-Dekoration vom eigentlichen französischen Villen-
stil mit seiner symmetrischen Front und dem stereotypen
3 fenstrigen »Salon« in der Mitte emanzipirt haben. Aber
das freistehende Landhaus halten wir noch immer für das

Ed. Wiegand, Budapest.

Erker-Einbau mit Fenster-Sitzen.

Ideal einer deutschen Wohnung, und das mag es wohl auch
für solche sein, die sich den Luxus einer »eigenen Villa« mit
ihren kalten, feuchten, zugigen Zimmern gönnen und diese
Nachtheile des freistehenden Hauses durch solideste Bauart
und intensive Schutz- und Heiz - Vorrichtungen aufwiegen
können. Aber der einfache Bürger, der ein Handwerk oder
Ladengeschäft oder eine kleine Fabrikation betreibt, der wird
auf den Besitz eines solchen eigenen Hauses verzichten müssen
oder doch erst in älteren Jahren daran denken können, sich
solch ein »Nest« zurecht zu machen. Für ihn ist und bleibt
das städtische Reihenhaus der Sitz des Bürgerthums, schon
deshalb, weil er mit seinem Gewerbe nicht hinausziehen kann
in die Villen - Viertel, sondern mit der eng um ihn herum
wohnenden Einwohnerschaft des Ortes auf Gedeih und Ver-
derb verbunden ist. Also: das Reihen-Haus ist unvermeidlich.

Dieses städtische Reihenhaus aber wieder zum bürgere
liehen Wohnhause, zum »Bürgerhause« zu machen, was es
einst gewesen ist, das ist eine Aufgabe, die — so nahe sie
liegt — wunderbarer Weise bis jetzt noch nicht gelöst worden
ist. Wohl hat man verschiedenen Orts Versuche gemacht,
auch das städtische Reihenhaus zum Familienhause zu gestalten;
aber alle diese Versuche, in denen z. B. Hamburg Beachtens-
werthes geleistet hat, sind immer davon ausgegangen, dass
 
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