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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 11.1900

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Becker, Marie Luise: Kunstgewerbe in der Rue des Nations, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.6712#0173

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August-Heft.

Illustr. kunstgewerbl. Zeitschrift für Innen-Dekoration.

Seite 129.

Pas Kunstgewerbe in per Rue pes Nations.

Von Marie Luise Becker, Berlin.

Eine Sprache blieb uns erhalten — allen verständlich —
als babylonischer Fluch Mensch von Menschen löste:
die Sprache der Kunst, die Sprache der Schönheit. Und sie
ist es auch, die die Kosmopolis am Quai d'Orsy übertönt in
dem unruhvollen, klangwirren Stammeln und Rauschen aller
Laute der Erde. Palast reiht sich hier an Palast — was haben
sie alle gemeinsam ? Zwischen
der Brücke Alexanders III.
und der Pont dAlma entlang
schreitend, durchwandern wir
Europa und Amerika, von Süd
nach Nord, von Ost nach West.
Jedes Land schaut uns in
seiner lokalen Physiognomie
an, hat die Kunst seines
Volkes hier zu Worte kom-
men lassen — ein Babylon
am Seinequai — wer löst die
Laute all' zu einem Voll-Ak-
kord? Und wie die Klänge
verschieden, so ist es die
Kunst: die Heimathkunst,
das Heimathgewerbe in allen
Theilen unserer Erde — nur
eines siegend darüber: das
Streben nach Schönheit, der
Wunsch, Haus und Heim zu
bauen und zu schmücken.
Ein farbenfroher Tanz, zieht
sich der Reigen der Paläste
an den grünen Ufern entlang.
Hier gibt es an jedem der Ge-
bäude zwei Haupt-I'assaden
zu sehen und mancher Bau-
meister Hess sich verführen,
in die kosmopolitische Strasse
einen Palast zu setzen, der
eine Stil-Uebersicht von tau-
send Jahren in seinen Fassaden
zusammendrängte. DenMuth,
eine lebenswahre, von Innen
heraus bedingte Gestaltung,
ein aus sich selbst empor-
gewachsenes Ganze zu er-
bauen, haben nur wenige
besessen, und dem Stil wTurde
die Zweck - Form geopfert.
Zwischen Marmor-Imitationen
und Schablonen drängt sich
ein Formenwust zusammen
das moderne, lebensvolle Element oder eine alte Heimath-
kunst, steht das Kunstgewerbe darinnen. Ungleich empor-
geschossen , eine Saat auf vielerlei Acker!

In Italien das prunkgewohnte, goldschimmernde Kind
der Renaissance, Formen, wie sie dort die historische Ent-
wickelung gegeben, und, wo heut ein Loslösen gesucht, nur
ein Tasten und Fragen nach dem Neuen. Im Palaste, halb
Kathedrale, halb Schloss, die traditionellen Farben traditioneller
Innen-Dekorationen: rother Sammt zum weissen Stuck und
zur Goldbronze. Feinsinnige Kopien alter Schätze, und hier
und dort ein Versuchen und Suchen. Wirklich ernst zu nehmen

Leon Bochoms, Verviers.

vermittelnd, verschönernd,

als selbständige Arbeiten modernen Stiles heben sich die
Fliesen, speziell Florentiner, vom Ganzen los. Fein stilisirte
Blüthenformen, naturalistisch erlebte Motive, in prächtigen
Farbentönen gegeben. Auch einige glückliche Gefässformen
und Darstellungen in Fayence und Majolika. Murano hat
gegen seine schwachen Versuche zu einem neuen Aufschwung,

die ich gelegentlich meines
Besuches in den Fabriken
im Vorjahre fand, einen guten
Fortschritt zu verzeichnen.
Auch hat man hier mit mehr
Glück und Geschmack als in
Böhmen das moderne Blu-
men-Ornament zum farbigen
Dekor der Gläser herange-
zogen, und auch für das herr-
liche Motiv des Kronleuchters
aus Krystall eine Stilisirung
schlankliniger Pflanzen be-
gonnen. Was sich indessen
speziell mit dieser Verarbei-
tung des geschliffenen, schim-
mernden, klaren Krystalls an
reiner Schönheit erreichen
lässt, harrt noch der endlichen
lösenden Auferweckung. Auf
diesem Gebiet blieben uns
selbst Renaissance und Barock
noch unendlich viel schuldig.

Feinsinnige Email, präch-
tige Bronzen sind Italiens Pri-
vileg. Das Gebiet der Spitzen
und Stickereien, das einst sein
Eigenstes war, zeigt sich
hier noch als blühendes, tech-
nisch reifes Gewerbe. Im all-
gemeinen sind die Stickerei-
Techniken im Niedergange,
gut die Spitzen. Doch noch
wenig im Neuen — nichts als
die Renaissance-Kringel der
venetianischen Manier, die
Blüthennetze des 17. und
18. Jahrhunderts. Es wartet
eine reife, prachtvolle, aus-
bildungsfähige Technik der
befruchtenden Neukunst. Man
versuchte hier und da in neue
Bahnen mit Bändchenspitze
und gewebten Vorhängen zu lenken, tiefer hinein in den
duftenden Frühlingswald aber wagte sich noch Keiner aus den
wohlbekannten Museen heraus. (Oesterreich hat mit seinen
Spitzen in den Esplanades des Invalides bewiesen, dass wir noch
unendlich schöner hier bauen können.) Weniger Museumsluft,
mehr die schaffensfrohe Werkstatt war die Nährmutter der
italienischen Mosaiken. Und gerade der musivischen Kunst er-
schliesst eine zielbewusste Behandlung, eine Beschränkung auf
die hier möglichen Schönheiten, die auf jede Vergewaltigung
verzichtet, Wie wir sie heut fordern und anstreben, unendlich
weite Gebiete. Italienische Intarsien, italienische Mosaiken und
italienische Fliesen sind im prunkenden Kuppelbau der Seine

Knüpf-Teppich.

1so0. viii. 2.
 
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