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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 11.1900

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Graevèll, A.: Die Grundlagen der künftigen Entwickelung des Stils in der dekorativen Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.6712#0151

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Juli-Heft.

Illustr. kunstgewerbl. Zeitschrift für Innen-Dekoration.

Seite Iii.

machen! Nur jene Aeusserlichkeiten haben sich im Laufe
der Jahre geändert, und wenn wir während der letzten drei
Jahrzehnte nach einander die Formen der Renaissance, des
Barock, des Rokoko, des japanischen, des englischen Stils an
uns vorüberziehen sahen, so verdient nicht eine dieser Epochen
den Namen »Stil«, denn mit allen diesen Formen haben wir
doch nur die althergebrachte, im »alten Stil« uns erinnerbare
Kisten- und Kastenform unserer Möbel überkleistert. Ob
wir einen Schrank, einen Tisch, einen Stuhl oder ein Bett
ansehen — immer sind es dieselben gleichmässig rechteckigen
Formen der steifen, kantigen Biedermaierzeit, mögen wir sie
nun mit Renaissance-Leisten, Rokoko-Schnörkeln oder japa-
nischen Blumen- und Thier-Ornamenten verzieren. Und diese
seit Rokoko sich immer gleichgebliebene Grundform unserer
Möbel hat die Architektur sich ihnen anpassen lassen und
zu jener schematisch-linearen Bauweise geführt, die vom
rechteckigen Grundriss nimmer abweicht.

Denken wir demgegenüber an den Formenreichthum der
Gothik, des Barock und Rokoko; beobachten wir, wie sich
der Karakter dieser Stilarten nicht nur im ornamentalen
Formelwerk aussprach, sondern Grundriss, Struktur und Binde-
glieder ihrem Wesen nach beeinflusste und eben diesen Stilen
entsprechend umbildete; vergegenwärtigen wir uns, wie
gothische Spitzbogenleibungen und Pfeilerbündel noch im
Durchschnitte die Kreuzform der Grundrisse wiederholen,
wie im Barock die strenge Rechteckform sich zum freieren
Octogon und dieses wieder im Rokoko zur gebrochenen
Kreisfläche erweitert, so werden wir anerkennen müssen, dass
diese Wandlungen auf Grund innerorganischer Gesetze sich
vollzogen und dass in eben dieser Gesetzmässigkeit das Wesen
der verschiedenen Stilarten erblickt werden muss. Die Gesetz-
mässigkeit lässt sich aber bereits deutlich erkennen in den
Möbeln jener Perioden, welche der Entwickelung der genannten
Stilarten vorausgingen. Schon in den Möbeln der mero-
wingischen Zeit finden sich deutliche Anklänge an gothisches
Spitzbogen- und Maasswerk (vergl. z. B. Dagoberts Thron)
und in ihren Grundrissen sind schon die Kreuzform und der
Crypta-Bogen gothischer Baudenkmäler erkennbar. In gleicher
Weise lassen sich bereits aus den Möbeln der späteren
Renaissance-Periode die karakteristischen Merkmale des Barock
ersehen: die Verbrechung der Ecken und ihre Auflösung in
Bogenlinien, der Hochdrang der Vertikallinien, die Schwel-
lungen der Horizontalen und vor Allem die Ausweitung des
rechteckigen Grundrisses zum 6- und 8-Eck. Und während
die Architektur der Barockzeit diese Errungenschaften einer
Weiterbildung der Renaissance praktisch verwerthete, sehen
wir in der Möbeltechnik bereits die Fortschritte des Rokoko
zur völligen Aufhebung der steifen Symmetrie der Linien,
zur Vermeidung aller scharfen Ecken und Kanten und zur
Auflösung der vieleckigen Grundrisse in kreis- und ellipsen-
förmige mit unregelmässiger Brechung der Randlinie. Die
architektonische Verwerthung dieser Stil-Momente ist leider
unterblieben, denn wie ein eisiger Frühlingsreif legte sich
auf die kaum erwachte Pracht des Rokoko der Klassizismus
der vorigen Jahrhundertwende, der geboren war aus der
nüchtern - materialistischen Anschauungsweise einer zu in-
dustrieller Entwickelung aufstrebenden Zeit, gesäugt mit der
Milch vernunft-philosophischer Lehrmethoden und gebadet in
dem Blute einer gegen höfische Ueppigkeit und Verschwen-
dung sich erhebenden Reaktion. Die Nöthe der Revolution
und der Kriege Hessen die Prachtmöbel des Rokoko ver-
schwinden; an ihre Stelle traten die puritanisch - einfachen
Formen der Empire- und Biedermaierzeit und damit war auch
der Architektur der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts
der Weg gewiesen: nüchtern, einfach, schmucklos stehen die

Prof. J. Hoffmann, Wien.

Ihüre im Ver Sacrum-SaaU.

Zeugen dieser Architekturperiode vor uns — nicht eine Kopie
der Antike, nicht eine Umbildung derselben im nationalen
Geiste, wie bei der Renaissance, sondern ein trauriges Denkmal
einer Zeit, der das Verständniss für die Kunst über den
politisch-materiellen Sorgen ihrer Tage abhanden gekommen
war. Und so sahen wir in der That, wie die Möbel immer
vorbildlich gewesen sind für die Wohnungen und Häuser,
und dass daher Wölfflin Recht hat, wenn er die »Dekorative
Kunst« für die Geburtsstätte eines »neuen Stiles« erklärt.

Heute nun befinden wir uns in einer Periode abermaliger
fieberhafter Thätigkeit auf dem Gebiete der Dekoration, und
es fehlt nicht an Stimmen, welche darin die Geburtswehen
für das Erscheinen eines »neuen Stiles« erkennen wollen.
Freilich gibt es auch Leute, die bereits daran verzweifeln,
dass ein solcher »neuer« Stil geboren werde. »Wir sind«,
sagen sie, »trotz des nationalen Aufschwungs vor 30 Jahren
auf einem todten Punkte in der Kunst angelangt und können
dem Eindringen fremder Strömungen kaum noch wider-
stehen.« *) Die Vorliebe der sog. »kunstverständigen« Kreise
für englische Möbel und seit der 1898 er Dresdener Kunst-
Ausstellung für belgische Innen-Dekoration scheint jenen
verzweifelt klingenden Satz zu bestätigen.

Hervorgegangen ist diese Ansicht zweifellos aus Betrach-
tungen über die grosse Zahl sich widerstrebender »Kunst-
richtungen«, die sich aller Orten erheben und mit mehr oder
weniger Sieges-Zuversicht den Heiligenschein der alleinselig-
machenden »neuen Richtung« für sich in Anspruch nehmen.
Dass diese neuen und neuesten Richtungen zuweilen recht antiker
oder wenigstens antikisirender Natur sind, beweist die mit viel
wissenschaftlichem Reklamewerk aufgetretene »Schule« des
Professors Wagner in Wien, der ja sogar die »antike gerade
Horizontale« zur Geburtshelferin des neuen Stils machen will.

So viel steht fest: die alte Wiegmann'sche Sehnsucht

*) R. Streiter; a. a. O.
 
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