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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 39.1923-1924

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Kiener, Hans: Die Kunstausstellung im Glaspalast 1924
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https://doi.org/10.11588/diglit.14151#0375

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DIE KUNSTAUSSTELLUNG IM GLASPALAST 1924

Die Kunstausstellung des Münchener Glas-
palastes im Verein mit der Neuen Secession
ist ein Ausschnitt aus der deutschen Jahres-
produktion, groß genug, um sich ein ungefähres
Bild zu machen, was auf dem Gebiete der bil-
denden Kunst zurzeit in Deutschland möglich
ist, was gewollt und was gekonnt ist.

Die Mehrzahl der Künstler lebt heute noch in
der Sphäre des Malerischen, wie es im Impres-
sionismus der großen Franzosen des ig. Jahr-
hunderts seinen klassischen Ausdruck gefunden
hat. Es darf als eine Selbstverständlichkeit hin-
genommen werden, daß bei vielen, obwohl oder
vielleicht weil es Impressionismus aus dritter
Hand ist, das impressionistische Sehen ein un-
vollkommenes ist, ebenso, daß nur bei wenigen
eine künstlerische Synthese mit den Kunst-
mitteln des Impressionismus erreicht wird. Liegt
es im Wesen des Impressionismus, die Organe
für die Aufnahmefähigkeit der Natur, ihre Farb-
und Lichtphänomene ins früher Ungeahnte zu
verfeinern, so ist die Kunst der großen Im-
pressionisten reife, lebenbejahende Kunst, denn
die Natur gibt sich, wo sie demütig gesucht
wird, als eine harmonische.

Auf der Höhe des Stils begannen aber nun
einige Künstler von bedeutenden seelischen
Ausmaßen — der größte von ihnen ist Ce-
zanne — die impressionistischen Ausdrucks-
mittel ihren subjektiven und subjektiveren Er-
lebnissen dienstbar zu machen. Und es wurde
gut, und es wurde groß, denn Cezanne hatte
eine im Elementaren verankerte, große Seele.
Und wie Michelangelo, selber der größte, nicht
mit Unrecht der Verderber der Kunst, oder
vielmehr der Künstler genannt wird, weil er
die Kleinen verführte, sich zu gebärden wie
es nur ihm zukam, so glaubte nun auch eine
sich an Cezanne begeisternde Künstlergenera-
tion, wie sie früher in der Nachahmung Ma-
nets geglaubt hatte, auf möglichst getreue Na-
turnachahmung käme es an, nur darauf käme
es an: auf das Extravagante, ohne daß sie
vermocht hätte, das Extravagante souverän zum
Ausdruck elementarer und tiefer seelischer Er-
lebnisse zu steigern.

War der Expressionismus Cezannes und van
Goghs organisch aus alter impressionistischer
Augenkultur herausgewachsen, waren sie Schritt
für Schritt dazu gekommen, um ihre (formalen)
Bildgedanken immer eindrucksamer herauszu-
stellen, bald hier, bald dort die Ausdrucksmittel
zu meistern und umzubiegen — das extrava-

gant Anmutende war nie Selbstzweck, sondern
nur Mittel zum Zweck —, so fing eine sich
für Cezanne begeisternde Generation an, das
Extravagante als solches zu suchen. Mag die
Neigung, auch die seelischen Bildgehalte immer
mehr aus der Sphäre des Wunderlichen, ja
geradezu des Psychopathischen zu nehmen,
mit dieser Vorliebe für absonderliche Mittel
zusammenhängen, oder mag umgekehrt die Be-
reitwilligkeit, sich dem Absonderlichen der Dar-
stellungsmittel zu erschließen, ihre letzte Er-
klärung in einer Bewußtseinslage finden, die
nahe heranstreift an die „Nachtseite" der
menschlichen Natur: Genug, Auge und innerer
Sinn waren geschärft für die Aufnahme des
Exaltierten und man schritt über die Sphäre
des „Malerischen" hinaus und nahm das Ex-
zentrische bereitwillig, wo man es fand, auch
aus linearen Sphären. Daher die Begeisterung
für alles „Unendliche", „Umgeformte" und
„Fratzenhafte" aus den mittelalterlichen und
exotischen Kulturen. Als ein diese Richtung
noch verstärkender Impuls wäre die Liebe zum
Primitiven in jeder Form, den Gauguin gege-
ben hatte, zu werten. Es wäre im einzelnen
zu untersuchen, inwieweit auch Leute, die
heute bewußt in der Formsphäre des Trecento
und des Quattrocento arbeiten, wie Baierl und
Ed. Steppes, zu dieser gemäßigten Ausdrucks-
kunst auf dem Umwege über das stark Ex-
zentrische gekommen sind, oder ob hier Tenden-
zen, deren rückwärtige Bindungen zu Schwind
und Führich zurückführen, auf ihre mehr ethisch
gerichtete Weise an der Herbeiführung eines
neuen Linearismus arbeiten.

Damit wären in ganz großen Zügen die
Möglichkeiten, die das heutige Kunstschaffen
bietet, umrissen und zugleich der Versuch ge-
macht, die Richtung zu zeigen, in der sich die
verwirrende Vielgestaltigkeit der heutigen Kunst
als ein „noch" oder „schon", als ein vernünftig
Bedingtes und unter sich Zusammenhängendes
begreifen ließe.

I.

MÜNCHENER KÜNSTLERGENOSSEN-
SCHAFT, MÜNCHENER SECESSION UND
ANGEGLIEDERTE ABTEILUNGEN

Es hat etwas Deprimierendes, zu sehen, wie
wenige von so vielen Leuten, die ihr Leben
der Kunst gewidmet haben, erlebt haben, worauf
es eigentlich ankommt: den in seiner formalen
Figuration — jenseits alles Gegenständlichen —

Die Kunst für Alle. XXXIX. September 1924

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