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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 5.1907

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Heft 1
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Gurlitt, Cornelius: Das englische Porträt im achtzehnten Jahrhundert
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https://doi.org/10.11588/diglit.4704#0033

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historical pieces", wie man sie damals nannte, die
Bildnisse, die mehr zu sein wünschten, als ein Bild-
nis. Es zog auch ihn zum Theater. Die Schau-
spielerin Siddons, die schon Reynolds begeistert
hatte, sass auch ihm. An Stelle Garricks, dessen
durchgearbeiteter Kopf der älteren Malerschule so
oft als Hilfsmittel zum Ausdruck tieferer Gedanken
diente, trat Kemble in allen seinen grossen Rollen,
aufdringlicher im Herausarbeiten der Eigenart der
dichterischen Gestalten, mehr bühnenhaft. Die
Hauptsache dabei war, den „Charakter" zu treffen,
das heisst den der Rolle gemässen Ausdruck: nicht
Kemble, sondern Hamlet oder Coriolan darzustellen.

Wenn ein Denker eine neue Weltanschauung
schafft, gelingt es ihm selten, seine Gedanken bis
in die Einzelheiten durchzuführen. Eine Schar be-
geisterter Anhänger ist bestrebt, sein Denken zu
erweitern, womöglich zu vertiefen. Immer mehr
Fortschritte werden gemacht; die Lehre rundet sich,
erhält ihre sicheren festen Formen. Und doch: All
das, was da geleistet wird, ist Zeichen des Ver-
falles. Das Schöpferische am Einfall ist der grosse,

der schlichte Gedanke. Am philosophieren geht
nach und nach die Philosophie zugrunde; die Tiefe
wandelt sich in Breite; sie verfliesst in diese.

Eine einfache künstlerische Wahrheit hat die
englische Bildniskunst zu einer der ersten in der
Welt gemacht: Nämlich die, dass man den Menschen
in seiner Eigenart darstellen müsste, wolle man ein
echtes Kunstwerk erlangen; womöglich den ganzen
Menschen in seinen körperlichen und geistigen
Sonderheiten. Es gelang nicht ganz, die Rokoko-
stimmung zu überwinden, die den Menschen see-
lisch wie leiblich zu verschönern strebte. Beides
zu verbinden, Wahrheit und Schönheit zu versöhnen,
war das Ziel gewesen. Man schritt immer weiter
diesem Ziele zu, man freute sich des im Fortschrei-
ten Errungenen, das ganze Volk nahm Teil an
dieser Freude. Und das Ende war der Rückgang;
es mussten durch Turner eine neue Wahrheit und
eine neue Schönheit gefunden werden, wollte die
britische Kunst über die Sackgasse hinwegkommen,
in die sie bei gleichmässig glücklichem Fortschrei-
ten hineingeraten war.

Es

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