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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 5.1907

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Heft 1
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Moore, George; Meyerfeld, Max: Erinnerungen an die Impressionisten, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4704#0035

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mit dem Glied aushelfen können; aber selbst wenn
Sie es könnten, die Kette wäre doch nicht dieselbe. Ge-
borgte Glieder passen nie; thäten sie's, so erinnerten
wir uns, dass sie geborgt sind. Manche werden das
für eine spitzfindige Psychologie halten, aber viele
mit mir der Meinung sein, dass sich das Gedächtnis
keines Menschen durch das eines andern ergänzen
lässt.

Wie ich so mit der Feder in der Hand dasitze,
wandern meine Gedanken von Ihnen zu Sickert. Sein
Charakter legt es nahe, dass wir Verabredetermassen
dorthin gekommen sein müssen, denn wir wissen, wie
sehr es sich Sickert angelegen sein lässt, dass sich seine
Freunde gegenseitig kennen und lieben lernen. Eine
treue Seele! Und seine Gastlichkeit erstreckt sich sogar
auf seine Freunde.

Sie waren damals ein junger Maler, dem Publikum
noch ganz unverdächtig, das ja immer mehr nach
Preisen als nach Bildern fragt. Ihr Talent fing eben
an aufzuleuchten. Zu der Zeit malten Sie gerade das
sinnende Mädel im schwarzen Hut — war sie nicht
Kellnerin in der Ausstellung in Earl's Court? —
das Mädel, das ich mir unter den vielen Bildern,
weil es mich besonders ansprach, in Ihrem Atelier
hoch oben aussuchte. Fünf Treppenarme musste man
hinaufsteigen, schwarze Steinstufen, bis zu Ihrem
Atelier mit der Aussicht auf den Bahnhof Addison
Road. Sie waren damals arm, ich ebenfalls und daher
nicht in der Lage, ein Gemälde zu kaufen, mochte es
noch so wenig kosten. Aber Künstler schenken sich ihre
Bilder. Sie machten den Vorschlag, mir dies Bild zu
schenken, und ich nahm es in seinem weissen Whistler-
Rahmen mit {für den Rahmen bestand ich aber wohl
darauf zu zahlen). Das Bild hing viele Jahre in
meiner Wohnung in King's Bench Walk. Jetzt hängt
es hier, in meinem Treppenhaus, und Sie werden mit
Freuden erfahren, obwohl ich es Ihnen schon oft er-
zählt habe — aber niemand hört ungern Geschichten
zum zweiten Male mit an, wenn sie erfreulich sind —,
dass ich während all der langen Jahre das Bild nie
schlecht gemacht habe, weder bei meinen Bekannten, die
es nicht immer bewundert haben, noch vor mir selbst.
Und Sie wissen, verehrter Freund, wie wandelbar die
Liebe des Mannes ist. Einige behaupten, meine Lieben
seien in ständigem Wechsel begriffen, aber Sie und ich
wissen, dass dem nicht so ist.

Etliche Jahre später schrieb ich im „Speaker"
regelmässig über gute zeitgenössische Bilder, deren ich
in den Ausstellungen ansichtig ward; und da mich
Ihre Bilder fast immer entzückten, schrieb ich darüber
— ohne Sie genug zu loben, das seh ich jetzt ganz

deutlich, jetzt, wo es zu spät ist, das Versäumte wieder
gutzumachen, denn die Tage meiner Kunstkritik
sind unwiederbringlich dahin. Für alles ist uns eine
Frist gegeben; verlängern können wir sie nicht.
Mögen andre darum Ihre Bilder loben! Ich will den
Menschen loben, der hinter den Bildern steht — den
stillen, anspruchslosen, freundlichen Menschen, der
tapfer und ohne Schaugepränge das Banner englischer
Kunst getragen hat, ein bescheidener Bannerträger
anfänglich, der gemeinsam mit seinen Kameraden aus-
stellte, nie nach der Führerschaft trachtete, der sein
Talent in geziemenden Grenzen entwickelte, ihm seht
Leben weihte und doch stets Zeit fand, auf alle neu
aufkommenden Talente hinzuweisen.

Ihr Leben scheint mir, wenn ich so sagen darf,
ebenso wundervoll wie Ihre Bilder. Sie haben einfach
gelebt, leben noch einfach, ohne Ueberschwenglichkeit,
ohne Spektakel zu machen, ohne Schwanzwedelei, wenn
ich mich so ausdrücken darf. Unsre Freunde, Tonks,
McCall, Rothenstein und Harrison, werden wohl ver-
stehn, was ich meine, und es gutheissen; wenn nicht,
will ich die Stelle in der nächsten Auflage ändern.
Und, täusche ich mich nicht, den Freunden wird dieser
Brief mehr Freude machen, als Sie davon haben.
Sie werden, wie ich Sie kenne, und ich kenne Sie sehr
gut, wünschen, ich hätte nicht halb so viel gesagt;
aber Sie kommen nicht allein in Betracht. Ich schreibe
diesen Brief ebensosehr für unsre Freunde wie für
Sie, und sie werden nichts daran auszusetzen haben,
dass ich den klugen, gütigen Einfluss lobe, den Sie aus-
geübt haben, auf Ihre unermüdliche Hingebung an ein
Ideal aufmerksam mache und betone, wie Ihr gütiges
Herz an der Aufgabe mithalf, die englische Kunst vor
der Academy zu bewahren, in gleichem oder doch fast
in gleichem Masse wie Ihr wundervolles Vorbild und
Beispiel.

Und die Freunde werden es mir auch nicht allzu
sehr verargen, dass ich in dieser Widmungsepistel die
kleinen körperlichen Besonderheiten aufzeichne, die wir
an Ihnen kennen — den langen Ueberzieher, den
Halsschal, die Gummischuhe, die Sie mitnehmen, wenn
Sie abends in Gesellschaft gehn; denn die Strassen in
Chelsea sind sehr oft dreckig, und Ihr Modell kommt
immer um zehn Uhr in der Frühe (ich glaube, Ihr
Modell geht Ihnen nie lange aus dem Sinn). Haben
wir nicht oft über Sie gelacht, wenn Sie sagten, Sie
gingen bei Nacht in der Mitte der Strasse, damit Ihnen
kein Ziegel auf den Kopf oder auf die Füsse falle und
Sie am andern Morgen arbeitsunfähig mache; ein
Mann müsse kaltes Blut behalten, wenn sein Modell
um zehn käme.

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