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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 5.1907

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Heft 12
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https://doi.org/10.11588/diglit.4704#0487

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eine Schar von Kunstfreunden, denen die Kunst zu
einem Lebensgleichnis fast religiöser Art wird.
Hinter diesem kleinen Kreis aber steht schon eine
ganze ahnungsvolle Jugend, eine neue Zeit.

Der Museumspolitik wird so ein Ziel gewiesen,
das einzig ihrer Anstrengungen würdig ist. Und
zugleich zeigt sich der Irrtum, worin die Zeit noch
befangen ist, wenn sie meint, zu einer lebendigen
Gegenwartskunst gelange man nur auf dem Wege
über die alte Kunst. Wir alle haben, zu unserm
Schaden, die Macht dieses Irrglaubens verspürt.
Zuerst wird der Jüngling in den Antikensaal ge-
führt, wo er ratlos doch, wie in einer Katakombe
der Schönheit, umherirrt; dann zeigt man ihm hohe
Säle und lange Gänge mit Meisterwerken der
Primitiven, die ihm eine Empfindung erwecken,
als befände er sich in einem Naturalienkabinet;
man spricht ihm von Stil und er bemüht sich mit
Schulgewissenhaftigkeit um äusserliche Merkmale,
um Nebensächliches; man fordert von ihm Be-
geisterung für die Genies und er entflammt sich
künstlich für starre Begriffe. Den Weg zur Seele
der alten Kunstwerke findet er erst, wenn er sich
von der Kunst seiner Tage, die ihn durch ihre
Stoffe schon anzieht, ihn am bekannten Gegenstand
die Stilform lebendig demonstriert und so un-
merklich ihm Auge und Anschauungskraft bildet,
den Schlüssel hat reichen lassen. Degas und Ingres
führen ihn zu dem wunderreichen Vermeer; Manet
erklärt erst das Tiefste in Velasquez; Feuerbach und
Marees öffnen tiefere Blicke in die Welt der Re-
naissance; Liebermann lehrt Franz Hals begreifen
und bereitet sogar auf Rembrandt vor; Leibi weist
erklärend auf Holbein, Rodin auf Michelangelo
und die Impressionisten machen die alte holländische
Bürgerkunst dem Modernen erst zu etwas wahr-
haft Intimem.

Darum sollten die Teile der Nation, die einer
ästhetischen Erziehung überhaupt fähig sind, prin-
zipiell vom Gegenwärtigen zum Vergangenen und
dann, belehrt, wieder zurück in die Richtung
auf die Zukunft geführt werden. Wenn unsere
Museen einen andern Zweck als den der Maga-
zinierung haben sollen, muss ihr Wirkensziel die
Erziehung der Nation zur Selbständigkeit, zum
vorwärtsschauenden Willen und zur künstlerischen
Produktivität sein. Heute wirken sie gar zu oft
das Gegenteil. Sie stellen stumm die Behauptung
auf: seht, so gross war die Vergangenheit; keine
Zukunft wird solche Höhe jemals wieder erreichen!
Das ist beinahe Verrat am eigenen Volk. Was

Menschen jemals vollbracht haben, das können sie
wieder vollbringen. Kein Ziel darf einem gesunden
Geschlecht, das Zukunft in sich fühlt, zu hoch sein.
Wir brauchen nicht Museen, um vom grossen Beispiel
den eigenen Willen abschirren zu lassen, sondern
um das eigene Streben zu spornen. Eine Vergangen-
heit, die beschämt und uns als ohnmächtig ver-
spottet, wäre hassenswert. Aber es giebt keine, die
das zu thun imstande wäre, wenn ein Wille zur
Zukunft vor ihr steht.

Der einzelne Museumsleiter vermag freilich
wenig. Er kann eine Sammlung alter Kunst unter
günstigen Umständen wohl organisieren, und mit
wachem Gegenwartssinn ordnen. Aber er kann dem
Besucher nicht den Schlüssel des Verständnisses
reichen. Dieser kann nur in einer Galerie moderner
Meisterwerke erworben werden. Für eine solche
Anstalt stehen heute aber nirgends Mittel zur Ver-
fügung, weil für die Regierenden — nie wurde
das Regieren weniger künstlerisch betrieben als
heute! — das falsche Prinzip gilt, man müsse in
der Kunst zurückgehen um vorwärts zu kommen.
Nicht als ob die Mittel für alte Bilder zu reichlich
bemessen würden. Im Gegenteil: auch die Museen
alter Kunst können ihren Besitz nur mit Hilfe privater
Schenkungen arrondieren. Für Bilder der Lebenden
ist aber in den Etats überhaupt Geld nicht vor-
gesehen und es würden in unsern öffentlichen
Galerien die für den Anschauungsunterricht wich-
tigen Bilder ganz fehlen, wenn nicht reiche Sammler
hier und da Schenkungen machten; wodurch der
Staat dann in eine beschämende Bettlerstellung ge-
drängt wird. In allen grösseren Städten haben wir
freilich Museen für neuere nationale Kunst. Aber
auch dort findet man entweder nur das schon Ab-
gelagerte, historisch Gewordene, oder das Mittel-
mässige, das später wieder entfernt werden muss
und im wesentlichen ein Produkt jenes falschen
Prinzips ist, wonach der Kunstjünger angehalten
wird, die Gegenwart den „Idealen" der Alten frech
und lügnerisch nachzumodeln. Selbst eine so muster-
hafte Sammlung neuerer Kunst wie die Berliner
Nationalgalerie ist nicht ein Museum der Lebenden,
wie es hier gefordert wird. Auch Tschudis
Museum ist eine historische Galerie, eine Samm-
lung von Bildern des neunzehnten Jahrhunderts,
sehr fein, sehr charaktervoll geordnet und ganz
vorbildlich in ihrer Art. Aber um sie richtig zu
verstehen, muss ebenfalls schon eine Lehre vorher-
gehen. Sie fordert zum Vorstudium eine Galerie,
wie sie schüchtern im oberen Saal der National-

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