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Kunst- und Unterhaltungsblatt für Stadt und Land — 1.1852

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Bauer, Ludwig: Erinnerungen aus der Kindheit (Schluß)
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https://doi.org/10.11588/diglit.45111#0156
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sage mir, Karl! wie hast du's über dein Herz ge-
bracht, deine Hildegard ohne alle Nachricht zu
lassen diese ganze fürchterliche Zeit hindurch?"
„Weil ich, durch Zufall um acht Tage früher als
ihr erwartetet, in England angelangt, bald vom
Stranden eines Schiffes hörte, auf dem ihr mich
vcrmuthcn mußtet; denn es waren ebenfalls frän-
kische Auswanderer darauf, Leute von Aschaffen-
burg, die ich in Cöln getroffen hatte. Nun halten
sic dich für todt, dachte ich, nun wähnen sie, du
habest überstanden, und jede Ahnung bleibt ihnen
erspart von dem gränzenlosen Elend, das dich dar-
nicderbcngt!" „Gerechter Gott! ist cs dir so er-
gangen?" „Ja, Hildegard! Nachdem ich drei Wochen
in London umhcrgclaufen war, ohne Arbeit zu
finden, und zwei Tage keinen Bissen gegessen hatte,
legte ich mich ermüdet und zerknirscht auf das äußere
Brett eines geschlossenen Bäckerladens. Pufft mich
der Nachtwächter aus der ersten Ruhe: He da!
wollt ihr bestohlen werden? Guter Freund! gab
ich zur Antwort, all mein Englisch zusammenraf-
fend, hier ist Nichts zu stehlen, außer dem Schlafe,
den ich euch bitte, mir zu gönnen. Er leuchtete
mir in's Gesicht, und schien sich zu überzeugen, daß
ich wenigstens kein Spitzbube sei. Wie ich um die
Morgendämmerung, gerädert an allen Gliedern
und mit dem Hunger eines Wolfs erwachte, über-
lief mich's kalt: du mußt ja am Ende gar noch
betteln! Bei den stolzen Engländern? Nein, sagte
ich, lieber auf der Straße liegen bleiben! und setzte,
lendenlahm und hinkend, meine Reise fort. End-
lich, wie cs schon wieder dunkelcr wurde, fand sich
ein Unterkommen, aber was für eines! Weil ich
ihre Sprache verdammt schlecht redete, schlugen sie
mich einzig nach meiner Leibesstärkc an, und über-
trugen mir das Geschäft — es war nämlich in
einer Zuckersiederei — die schweren Hüte vom Bo-
den bis zur Decke durch eine Ocffnung emporzu-
schwingen, wo sie ein Anderer gemächlich in Em-
pfang nahm." „Ha, dieses gcisttödtende Geschäft
für dich! Hast du's denn lange ansgehalten?"
„Jahre lang durst' ich nichts Anderes treiben."
„Du thatcst recht daran, dicß uns nicht wissen zu
lassen: der Kummer hätte mich verzehrt! Aber wei-
ter, Karl, weiter! Wie hat sich's denn noch ge-
staltet?" „Eines Abends, als meine Arbeitszeit
längst vorüber war, und immer noch keine Ablö-
sung kommen wollte, fing ich herzhaft an auf
-

Deutsch zu fluchen. Ruft's hinter mir: oho, ein
Landsmann? Wie ich mich umdrehe, steht ein wohl-
gekleideter, feiner, ältlicher Herr da, der mich scharf
mit den Augen mißt. Ein Franke, wie es scheint?
Zu dienen, sagt' ich. Wie sind Sie in eine Lage
versetzt worden, die Ihnen so wenig behagt? Ich
erzähl's ihm in der Kürze. Fast ein Schicksal wie
das meinige, sagte er. Gute Nacht einstweilen!
und entfernte sich. Den andern Tag, als ich an
mein liebenswürdiges Geschäft zurückkehren wollte,
ward ich zum Inhaber der Zuckersiederei gerufen.
Ihr habt noch zwei Monate Lohn bei mir gut:
hier ist er: in der und der Straße, im sovieltcn
Haus, eine Treppe hoch, könnt ihr ein Weiteres
erfahren? Mein Herz sagte mir, daß jener Deutsche
mich zu sich nehmen werde. Und richtig mußte ich
als Gehülfe bei ihm eintretcn in ein großes Zucker-
bäckereigeschäft. Anfänglich war er sehr zurück-
haltend; doch konnte ich wohl bemerken, wie er
Gelegenheit nahm, in Geldsachen und mancherlei
Aufträgen, die eigentlich nicht meines Amtes wa-
ren, meinen Diensteifer und meine Redlichkeit zu
prüfen. Die Probe kam mir leicht zu stehen; denn
vom ersten Augenblick an verehrte ich in ihm
einen Netter aus der Noth. Es währte nicht lang,
so schien seine Zufriedenheit sich in Wohlwollen zu
verwandeln; mit der Zeit wurde er vertraulich,
und bald sah ich mich als einen jüngern Freund
von ihm behandelt. So war ein halbes Jahr ver-
flossen, als er mich Abends auf ein Glas Augs-
burger Bier einlud; denn Herr Lindner ist aus
Augsburg gebürtig. Karl, sagte er, als ich kam,
heute ist mein sechzigster Geburtstag, und heute
wollen wir uns auf Du und Du setzen. Siehe,
so lang ich hcirathcn wollte, konnte ich's nicht,
und seit ich das Vermögen dazu habe, ist die Lust
vergangen. Als harmloser Zeuge aber mocht' ich
wohl noch Thcil nehmen am Glück eines Ehepaars, und
zu diesem Glück einem Deutschen zu verhelfen, lag
mir seit Jahren schon im Sinne. Karl, ich werde
dich als meinen Sohn erkennen: geh' hin und suche
dir eine Frau! Kaum war ich vom ersten Taumel
des Frohlockens wieder zu mir selbst gekommen, so
nannte ich den Namen Hildegard, und erbat mir
Reisegeld nach Franken." Während Karl erzählte,
wurde seine schwärmerische Zuhörerin still und stil-
ler; als er schwieg; lehnte sic blaß und zitternd
ihr Haupt an seine Brust. „Ich habe dich über-
-

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