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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 14.1903

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Haendcke, Berthold: Bemerkungen zu Michelangelo's Jüngstem Gericht
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https://doi.org/10.11588/diglit.5810#0041

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Bemerkungen zu Michelangelo's Jüngstem Gericht

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zum Gericht, stürzen die Verdammten hernieder, eilen
die Seligen aus der Tiefe empor, erheben sich die
zu Richtenden aus der Erde, nimmt der Höllenfürst
die Verworfenen entgegen.

Seite an Seite mit dem Weltenrichter erblickte in
visionärer Erhebung der Seele der Meister das Er-
wachen der Toten, das Stürzen, das Jammern der
Verfluchten; sah er die Massen zum Himmel empor-
streben, hörte er mit den Seligen das Wort: auf
ewig verflucht! — Wer dem Künstler nachfühlen will,
der muss sich zunächst räumlich zu ihm hinauf-
denken, mit ihm in den unmessbaren weiten Raum
hinabblicken — erst dann wird der Beschauer ahnen
können, wie in seinem Innersten der wie von Ewigkeit
zu Ewigkeit denkende und schauende einsame Gigant
unter den Malern und Menschen erschüttert war. Wie
anders Rubens, der Maler des Barocks. Er sieht in seinen
malerischen Schöpfungen gleichen Inhalts von unten
nach oben, von der Erde zum Himmel mit kleinen
Menschenaugen — Michelangelo schaut mit den
Augen des Ewigen in die Welt des wesenlosen
Scheines von oben nach unten, vom Himmel zur
Erde.

Was im dichtenden Künstlerherzen wie jenseits
der Erdenwelt erlebt war — der verstandesmässig
schaffende Maler hätte keine, wenn man so sagen
darf, wahrheitsgemässere Komposition finden können.
Michelangelo wollte wie seine mittelalterlichen Vor-
gänger (z. B. Oberzell, Pisa, Giotto, Lochner, Fra
Angelico) und im Gegensatze zu Fra Bartolomeo
und Rubens die heiligen Personen auch körper-
lich als die dominierenden bezeichnen. Es war dies
eine Aufgabe, die bei der gewaltigen Höhe des
Freskos schwer zu lösen war. Michelangelo schob
zu diesem Behufe Christus beziehungsweise dessen
Umgebung in den vordersten Grund, so dass alle
anderen Gründe zurückgedrängt wurden. Der Höllen-
fürst, die Höhle, die Auferstehenden, die scheinbar
am Bildrande stehen, haben thatsächlich — vom Bilde
aus — mehr oder weniger den Platz auf dem zweiten
Plane zugewiesen bekommen. Hierdurch wurde es
dem Künstler ermöglicht, den aus den Tiefen heraus-
schwebenden Heiland die unteren Massen beherrschen
zu lassen. Michelangelo musste allerdings diese An-
ordnung, die handelnden Personen im ersten Grunde
aufzustellen, schon deshalb wählen, weil er kein Hell-
dunkelmaler war. Der Meister hat auch erst durch
dies Arrangement das Bild räumlich in seine Gewalt
bekommen. Dieser Eindruck wird durch das von
ausgesprochen malerischen Erwägungen veranlasste
Vordrücken des rechten Flügels wesentlich verstärkt.
Der Maler bringt uns durch die Einfügung dieser
sich einer Diagonale etwas nähernden Linie besonders
stark das unwiderstehliche Weitereilen der oberen
Regionen voll zum Bewusstsein. Michelangelo hat
aber auch den Raum in der Tiefendimension durch-
aus überzeugend dargestellt. Er lässt, wie bemerkt,
Christus von dichten Wolken getragen aus Welten-
fernen hernieder- und hervorschweben, den ganzen
Hintergrund sich mit Gewölk erfüllen, aus dem Ver-
dammte und Selige hier und da auftauchen, vor dem

sie herabstürzen, und in dem sie zum Himmel
emporstreben. Michelangelo operiert ganz offenkundig
mit einem unabsehbar sich erstreckenden Raum; denn
die aus dem Wolkenschleier hervorkommenden Ge-
stalten sind entweder im Verhältnisse zu den andern
Personen sehr klein oder nur andeutungsweise in Um-
rissen (sie werden fast stets übersehen) gemalt. Michel-
angelo hat offensichtlich die verhüllenden, aber wiederum
einen gewissen Tiefenblick gestattenden Dunstmassen
als Hilfsmittel herangezogen, um einen sich in alle
Ferne verlierenden Raum zu schildern, dessen Illusion
mit anderen malerischen Mitteln zu erzwingen er sich
ausser Stande sehen musste. In diesem Augenblicke
übertraf Michelangelo als Maler entschieden Signorelli
in dessen Malereien zu Orvieto. Allerdings können
wir ja heute nicht mehr völlig sicher darüber urteilen,
inwieweit Michelangelo wirklich illusionistisch gewirkt
hat — nach den uns verbliebenen Resten hat er seine
Absicht fraglos erreicht gehabt. Es dürfte überhaupt
meines Erachtens angebracht sein, in Michelangelo
ein wenig mehr den Maler zu betonen und nicht so
überwiegend den Plastiker beziehungsweise den Maler-
Plastiker. Justi hat wohl auf einen richtigen Weg
hingewiesen. Aus durchaus malerischem Empfinden
heraus hatte z. B. der Meister die oberen Teile seines
Freskos heller gehalten als die unteren. Er unter-
stützte also die lineare Komposition durch die Kraft
des Tones, der namentlich bei der mit sehr sicherem
Takte erwählten, den seelischen Ausdruck steigernden
Monochromie mit besonderer Sorgfalt zu stimmen war.

Michelangelo hat aber nicht nur im Hinblick auf
die Gesamtanlage, sondern auch bezüglich aller
Einzelarbeit auf das strengste gefolgert. Wo stand
der Künstler, als er das jüngste Gericht malte, wo ist
der Horizont des Bildes? Etwa am Kopfhöhe über
dem. Haupte Christi. Dort scheidet sich Aufsicht
und Untensicht. Die Eckgruppen mit dem Kreuz
und der Säule sind mit Untensicht, alle anderen
Figuren mit Aufsicht gezeichnet; wobei ein paar kleine
Fehler mit unterliefen. Das Rost des Laurentius ist
später hinzugefügt. Derjenige also, der das Werk
künstlerisch richtig sehen will, muss sich etwas
höher als der Heiland steht stellen. Michelangelo
offenbart hier als schaffender Künstler ein Vorstellungs-
vermögen, das das des Rubens entschieden über-
trifft. Denn Rubens hat seine beiden Gemälde, in
denen er das jüngste Gericht schildert — wie auch
den Sturz der Verdammten — in der entschieden
leichteren, weil uns natürlicheren Ansicht von unten
nach oben gemalt.

Michelangelo's Ausdrucksmittel werden im ein-
zelnen »ausschliesslich der plastischen Phantasie« zu-
gewiesen, sowohl im Hinblick auf die einzelnen Per-
sonen, wie hinsichtlich der Gruppenbildung; ohne
»eine viel reichere Mannigfaltigkeit der Stimmungen,
als sie im allgemeinen angenommen wird«, zu
leugnen. Diese Bemerkungen haben zweifelsohne
ihre Berechtigung, bedürfen aber einer schärferen
Fassung. Sie sind, allgemein gesprochen, in ihrem
ersten Teile nicht stichhaltig, so lange man Signorelli
als Maler in seinen Fresken zu Orvieto gelten lassen
 
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