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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,3.1911

DOI Heft:
Heft 15 (1. Maiheft 1911)
DOI Artikel:
Marr, Heinz: Mensch und Maschine: auch eine Osterbetrachtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.9032#0203
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ausgesprochen gegeu persönliche Freiheitsbedürfnisse, die anonymen
Bedingungen der technischen Arbeit widerstreiten, unsre Nachbarn
ziehen es vor, den unpersönlichen Gehorsam der Maschine zu unter-
brechen. Das deutsche Proletariat wünscht sich die Zusammenfassung
der lebendigen Kräfte zu einem ungeteilten Massenwillen, der sich von
wenigen Punkten aus automatisch ein- und ausschalten ließe, präzise
wie der Elektromotor, der trotz seiner HOO ?8 durch die Hand eines
Kindes stillgestellt werden kann. Nnd so verraten sogar seine solida-
rischen Gehorsamsverweigerungen nach Art und Form eine viel tiefere
Verwandtschaft mit dem Geiste der Technik!

Ich glaube, daß diese Verschiedenheit der Massenpsyche den fried-
lichen Wettbewerb der Industrievölker künftig entscheiden wird. Wahr-
scheinlich auch den kriegerischen, denn es ist unzweiselhaft, auch die
Mittel des modernen Kriegs fordern zunehmend mehr technisch diszipli-
nierte Massen. Wenn es den Russen und anscheiuend auch den
Franzosen immer schwerer wird, den komplizierten Apparat eines
modernen Kriegsschiffs ohne „Zwischenfälle" zu bedienen, so liegt
das wohl nicht nur, wie Herr Lehmann meint, am Schnaps oder an
der Verderbtheit eines parlamentarischen Regimes!

Haben wir demnach allen Anlaß die besondern Werte des deut-
schen Industriearbeitervolks zu schätzen, so dürfen wir anderseits die
besondern Gefahren seiner ausgeprägten technischen Veranlagung
nicht übersehen. Wir müssen vor allem wiederum fragen, ob dieser
zivilisatorische Optimismus in sich haltbar ist und eine wirklich
dauerhafte Grundlage gesunder Volkskultur sein kann. Worauf haupt-
sächlich stützt er sich? Auf die Aberzeugung, daß der Zwiespalt des
gesellschaftlichen Daseins aus einer unrichtigen gesellschaftlichen „Ord-
nung" käme, nicht aber aus der Nnvollkommenheit und Befangenheit
des Menschlichen überhaupt, aus der Tragik des Lebens über-
haupt. Damit werden von vornherein alle „Iunenfragen" des Da-
seins bewußt oder unbewußt abgewiesen oder zu technischen Problemen
im weiteren Sinne des Wortes verflacht. Dieser Zustand ist innerlich
haltbar, so lange die Zuversicht auf eine von außen kommende, rein
organisatorische Lösung der sozialen Frage fest bleibt. Noch behauptet
sie sich. Aber hat sie nicht ihren Höhepunkt bereits überschritten?
Kann ernstlich geleugnet werden, daß ihr reinster Ausdruck, die Zu-
kunftsstaatsidee verblaßt? Oder ist der Rückzug vou der revolutionären
Hoffnung auf die evolutionäre Geduld, ist das Vertrauen auf die „Ent-
wicklung" und der Verzicht auf den „Nmsturz" am Ende nur er-
freuliche Annäherung an einen gesunden Realismus, der des Lebens
Bedingtheit zu begreifen beginnt? Etwa so wie der reifende Mann
begreifen lernt, daß der Äberschwang seiner Iugendträume unhaltbar
war? Kann denn solcher Äbergang, der schon im Leben des einzelnen
meist krisenhaft verläuft, im Denken von Millionen schmerzlose Wen-
dung sein? Ist solch verzichtende Beschränkung und Geduld als
Volksstimmung überhaupt denkbar?

Fragen — Fragen, die bestimmt zu beantworten sich niemand unter-
fangen darf, die aber auch niemand beiseitezuschieben vermag, der die
gefährliche Dissonanz unsrer technischen Zeit, das Mißverhältnis ihrer
innern und äußern „Lrrungenschaften" ernstlich fühlt! Findet dieses

sS6 Kunstwart XXIV, sS
 
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