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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 24,3.1911

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Heft 18
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9032#0485
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ist Zweckreisen. Das heißt, man
reist nicht aus Freude am Reisen,
sondern um da° oder dorthin zu
gelangen. Es wird eben bei den
damaligen Verkehrswegen und Ver-
kehrsmitteln, zumal bei der Un°
sicherheit der Straßen, kein beson-
deres Vergnügen gewesen sein. Ge-
sänge wie das Altdeutsche Wander-
lied im „Benzenauer Ton" aus
dem s5. Iahrhundert stehen ziemlich
vereinzelt da. Unsre ersten Märsche
sind „Intraden", festliche Einzugs-
musiken; dann dienen sie militäri-
schen Bedürfnissen. Aber das
„Marschlied" ist noch zur Zeit
Friedrichs des Großen eine ganz

kanten, Komödianten, Zigeuner für
die Kunst ein vordem nie gekanntes
Interesse. Noch K. M. von Weber
hat in seinem Handwerksburschen°
liede „O Berlin, ich muß dich las-
sen" die Komik hervorgehoben, die
in dem Gegensatz der überschwäng-
lichen Gefühlssentimentalität und
der Trivialität der äußeren Erschei-
nung liegt. Ietzt beginnt die poeti-
sche Verklärung alles Vaganten-
tums durch Wilhelm Müller, Ei°
chendorff usw., die Apotheose des
Wanderns nnd Neisens zur Be-
friedigung einer unbezwinglichen
Sehnsucht. Die alten Nomaden-
instinkte der Menschheit drängen

Zeichnung von Franz Pocci

unbekannte Gattung. Am Ende
des achtzehnten, zu Anfang des
neunzehnten Iahrhunderts sind es
vornehmlich die Studenten und die
Handwerksburschen, welche die
Poesie des Wanderns erfassen.
„Studio auf seiner Reis" gibt dem
Gefühl der Freizügigkeit zuerst lh-
rischen Ausdruck, und die Kunst-
lyrik nimmt diesen neuen Klang
(vergl. Goethes „Musensohn") so-
gleich als willkommene Bereiche-
rung ihres Empfindungskreises auf.
Mit den Tagen der Romantik aber
beginnt das Wandern als Sport,
als Selbstzweck, als Gemütsbefrie-
digung, und nun gewinnen mit
einem Male die „Fahrenden", also
auch die Handwerksburschen, Musi-

aus dem Unbewußten wieder nach
Betätigung. Franz Schubert, Fe°
lix Mendelssohn, Friedrich Silcher
schlagen — jeder in sciner Weise —
den Ton an, der nun herzhaft in
unsrer Lyrik weiter klingt, bis zu
Hugo Wolfs „Fußreise" oder „Iu
ein freundliches Städtchen tret ich
ein". Auch das volkstümliche Lied
bemächtigt sich des dankbaren The-
mas, unzählige rüstige Wander-
melodien liegen in der Luft, und
wenn das Wandern nnd Reisen
jemals aus der Mode käme, so ent-
hält die Literatur und Musik künst-
lerischer Antriebe übergenug, um
die Lust daran bis ans Ende der
Welt immer wieder wachzurufen
und rege zu erhalten.

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